Auf dem Weg zu einer neurowissenschaftlichen Gouvernementalität. Zu den Konturen einer neuen Emotionenpolitik (Vortrag, Hamburg, 14. März 2009)

Auf dem Weg zu einer neurowissenschaftlichen Gouvernementalität. Zu den Konturen einer neuen Emotionenpolitik (Vortrag, Hamburg, 14. März 2009)
[Towards a neuroscientific governmentality?]

Politik und Emotionen – Perspektiven der Politischen Theorie, Frühjahrstagung der DVPW, Helmut-Schmidt-Universität, Sektion für Politische Theorie und Ideengeschichte

Abstract:

Mit der von den Neurowissenschaften anvisierten Entschlüsselung der Struktur und Funktionsweise des Gehirns soll es perspektivisch möglich sein, menschliches Handeln nicht nur neurowissenschaftlich zu erklären, sondern auch umfassend neurotechnologisch und  pharmakologisch zu beeinflussen. Wenn alles Handeln Gehirn ist und das Gehirn chemisch, biologisch und elektronisch entschlüsselt ist, dann ließen sich gesellschaftliche Probleme durch entsprechende Gehirn-Interventionen bearbeiten. So lauten die langfristigen Szenarien, die in der breiten amerikanischen Diskussion zu Neuroethik diskutiert werden. Implizit werden in diesen Kontroversen politische Theorien sowie der Status von Emotionen in der Politik verhandelt.

Hintergrund der Diskussion ist die zunehmende Nutzung von Neuropharmaka zur Optimierung von Wohlbefinden (z.B. Antidepressiva als Glückspillen), Leistungsfähigkeit und Sozialverhalten (z.B. Ritalin). Angesichts dieser Möglichkeiten einer „kosmetischen Psychopharmakologie“ entwickelt sich international eine umfassende Diskussion der Neuroethik sowie ein breite Diskussion des Technology Assessment (auch im Deutschen Bundestag). Damit stehen Fragen von individueller Freiheit, staatlicher Sicherheit und insbesondere die Frage von Wettbewerb und seiner politischen Funktion auf der Agenda.

Mit und durch die zunehmende Bedeutung der Neurowissenschaften entstehen spezifische Wissensbestände und Regierungstechniken sowie Formen der Fremd- und Selbstführung,  die sich mit Foucault als eine spezifische Gouvernementalität fassen lassen

Francis Fukuyama, der prominenteste konservative Kritiker der neuen Interventionsmöglichkeiten durch Neuropharmaka, sieht den Wettbewerb und damit den Fortschritt der Menschheit durch kosmetische Psychopharmakologie in Gefahr. Erfolg, Glück und Wohlbefinden hätten bisher auf Kampf und Arbeit beruht, mit den heutigen Antidepressiva, die zu Lifestyle-Drogen geworden seien, würde die amerikanische pharmazeutische Industrie „durch Freisetzung von Serotonin im Hirn Selbstachtung nach Belieben liefern“; das Streben nach Selbstachtung und Bestätigung würde entwertet. Für die konservativ-essentialistische Kritik, wie sie Fukuyama vertritt, stehen die normativen Grundlagen des Staates sowie das ‚Wesen des Menschen’ durch neuropharmakologische Interventionen auf dem Spiel. Auf der anderen Seite stellt die empirische Glücksforschung in Frage, dass Glück eine Folge von Erfolg ist. Neuere Interpretationen behaupten, das Glück und/oder Zufriedenheit unter Umständen gerade die Grundlage von Erfolg bzw. erfolgreicher ökonomischer und sozialer Aktivitäten sind.  Damit steht die Frage im Raum, wie das Streben nach Glück (pursuit of happiness) zu gewährleisten ist.

So werden in der neurowissenschaftlichen Diskussion implizit und explizit Fragen der Politischen Theorie verhandelt: Der Status und die Aufgabe von Politik und Staat, die normativen Grundlagen des Regierens, (Verteilungs-)Gerechtigkeit sowie die Frage von individuellen Freiheitsrechten (z.B. Recht auf neuropharmakologische Selbstveränderung) und einer langfristigen Gewährleistung von Freiheit (Schutz vor dem Zwang zu neuropharmakologischer Selbstoptimierung).

Wie Emotionen in neuer Weise verhandelt werden, weil sie Gegenstand von direkter Intervention werden; wie darin das Verhältnis von Individuum und Staat sowie von Freiheit und (Verteilungs-)Gerechtigkeit thematisiert wird, und wie sich ein widersprüchliches Ensemble von Selbsttechnologien und Regierung herausbildet, soll in dem Beitrag als neurowissenschaftliche Gouvernementalität analysiert werden, in der sich erste Konturen eine zukünftigen Politik der Emotionen zeigen lassen.