Die industrielle Zukunft neu entwerfen. Zu einem transformativen Erfindungsgeist des 21. Jahrhunderts. Buchbeitrag zu: FUTUR 21. kunst, industrie, kultur

Petra Schaper Rinkel, „Die industrielle Zukunft neu entwerfen. Zu einem transformativen Erfindungsgeist des 21. Jahrhunderts.“ in: FUTUR21. kunst, industrie, kultur. Katalog zur Konferenz und zum Festival des Landschaftsverband Rheinland/ Landschaftsverband Westfalen-Lippe 2022, S. 48-50

Textauszug:

Mit Automatisierung, dem maschinellen Lernen der künstlichen Intelligenz, Kreislaufwirtschaft, weißer Gentechnik und einem ‚Green Deal‘ sollen sowohl die industrielle Wettbewerbsfähigkeit Europas als auch das Weltklima gerettet werden. Ein paar Innovationen mehr und die ein wenig schneller als zuvor und schon müsse der bisherige Pfad der industriellen Entwicklung nun doch nicht grundsätzlich infrage gestellt werden.  Wenn wir uns die Szenarien der Industrie im Jahre 2050 anschauen, sehen wir viel Grün, noch mehr Automatisierung und eine Verschmelzung von Lebenswelt und Industrie, von Stadt und Land.  Die Industrie wird grün, sie verschmilzt mit der Landwirtschaft, wird automatisiert und braucht (kaum) mehr menschliche Arbeitskraft. Mit 3-D-Druckern kann die Fertigung in der smarten, gründen City stattfinden, wird miniaturisiert und allgegenwärtig wie das Internet. Was außerhalb der grünen, intelligenten Innenstädte und der High-Tech-Zentren passiert, ist in den Bildern nicht zu sehen. Hat diese industrielle Zukunft etwas mit Armut, Gewalt, Rohstoffkriegen und Regenwaldsterben andernorts zu tun?  Das bleibt in der Regel unbestimmt. 

Die kontextlosen Bilder harmonisch-grün-freundlicher Städte und Wohninseln sind als Fast Future die passende Begleitung von Fast Food und Fast Fashion – mit den erwartbaren Folgen: Ein weiterhin ruinöser Wettlauf um Wettbewerbsfähigkeit verschärft steigende Ungleichheit, beschleunigt den Klimawandel und zerstört damit Menschenleben. Was nicht heißt, dass es nicht tatsächlich Fabriken geben wird, in denen Roboter in klinischer Reinheit ganz unter sich bleiben, die Wolkenkratzer der Zukunft grün bewachsen zugleich die Lebensmittelproduktion in die Städte holen und kreative Menschen global verteilt fantastische Dinge jeweils vor Ort in Mikrofabriken produzieren können. Nur dürften es weiterhin wenige sein, die dann auch in fünfzig Jahren das gute Leben an ausgewählten Orten leben, während die Mehrheit der Menschheit ausgeschlossen ist von dem, was der industrielle Fortschritt seit nunmehr zwei Jahrhunderten verspricht: Wissenschaft, Innovation, Wohlstand und Zeit für alle durch steigende Produktivität. 

Ohne grundlegende Neubestimmung und Transformation des industriellen Paradigmas dürfte sich die Gegenwart in ihrer oft unbestimmten und doch brutalen Teilung der Welt in Inseln des materiellen und intellektuellen Wohlbefindens in den Weiten der Armut und Chancenlosigkeit fortsetzen. Es gilt also, das vermeintlich Unmögliche aber Denkmögliche zu denken; eine Zukunft zu antizipieren, die zumindest denkexperimentell den Neubeginn wagt. Für einen solchen Umbruch standen einst die widersprüchlichen Praxen und Konzepte dessen, was Industrie ausmacht. 

Bei Robert Musil heißt es: „Wo es den Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben.“ In den industriellen Industrieszenarien der Zukunft führt der auf instrumentelle Vernunft begrenzte Wirklichkeitssinn den Pfad fort, der die Industrie auf eine globale Materialschlachtmaschine reduziert. Der Möglichkeitssinn als Sinn der ganz anderen Möglichkeiten, der fehlt. Wie sähe aber die Welt der Zukunft aus, wenn es einen neuen Erfindungsgeist geben könnte, der dem gerecht werden würde, was einst das Konzept der Industrie ausmachte? 

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