Petra Schaper-Rinkel (2007). Die neurowissenschaftliche Gouvernementalität. Re-Konfiguration von Geschlecht zwischen Formbarkeit, Abschaffung und Re-Essentialisierung. In: Irene Dölling, Dorothea Dornhof, Karin Esders, Corinna Genschel, Sabine Hark (Hrsg.) Transformationen von Wissen, Mensch und Geschlecht. Ulrike Helmer Verlag 2007. 94-108
Einleitung
Das Gehirn gilt Natur- und Technikwissenschaften als »the final frontier«. Neurowissenschaften, Gehirnscans, Neurotechnologien und Neuropharmaka machen es zu einem Feld von Kontrolle, Intervention und Optimierung. Was das Denken, Fühlen und die Steuerungsleistung betrifft, so ist das Gehirn in einem besseren oder schlechteren Zustand, es bedarf je nach Ausgangslage einer spezifischen Behandlung und Verbesserung. Bilder des Gehirns ermöglichen es scheinbar, die neurobiologische Natur von Geschlecht, Verhalten und Gewalt zu zeigen. Das Militär will die Leistungsfähigkeit von Soldaten über direkte Verbindungen zwischen Gehirn und externen Systemen erhöhen (Roco/Bainbridge 2002: 252, 340); mit neuen Neuropharmaka werden Verhaltensweisen, die von Normen abweichen, zu pharmakologisch zu optimierenden Zuständen. Gedächtnispillen und Glücksdrogen gelten als Milliardenmärkte der Zukunft und sind zum Teil bereits begehrte Waren und Gegenstände ethischer Reflektion (Farah u.a. 2004: 424; Illes 2006). So stehen mit den Anwendungen der Neurowissenschaften zumindest implizit Fragen nach der Veränderung und der Reproduktion gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse auf der Tagesordnung.
Deutliche Kritik kommt von US-amerikanischen Konservativen: Francis Fukuyama, bis 2005 Berater des US-amerikanischen President’s Council of Bioethics, hält Neuropharmaka für gefährlich, da sie die Unterschiede zwischen den Geschlechtern nivellieren würden. Wenn immer mehr Frauen mittels Antidepressiva durchsetzungsfähig gemacht und immer mehr männliche Schüler pharmakologisch (mit Ritalin) ruhig gestellt würden, sei die natürliche Ordnung der Geschlechter in Gefahr (Fukuyama 2002, 2004). Eine erstaunliche Sichtweise, denn wenn Fukuyama recht hätte, dann wären Neuropharmaka ein Mittel der ›praktischen‹ Dekonstruktion der herrschenden Geschlechterverhältnisse. Sollten Neurotechnologien also ein Potenzial haben, das System der Zweigeschlechtlichkeit und die traditionellen Geschlechterarrangements aufzulösen, sollten sie gar subversive Wirkungen haben und die patriarchalen Verhältnisse zum Tanzen bringen?
Dieser Frage nach der transformierenden Wirkungsweise der neuen Neurotechnologien werde ich in diesem Beitrag nachgehen. Zuerst soll ein kursorischer Rückblick auf die ›alten‹ Neurowissenschaften, die psychiatrischen Praxen der 1970er Jahre, zeigen, wie sich die heutigen Konzepte von den damaligen unterscheiden. Im Folgenden werden Konturen einer neurowissenschaftlichen Gouvernementalität der Gegenwart dargestellt. Die neurowissenschaftliche Gouvernementalität umfasst zum einen eine spezifische Wahrheitsmatrix, in der Geschlecht implizit als neurobiologische Konstante erscheint. Zum zweiten bilden sich neurowissenschaftlich induzierte und forcierte Selbsttechnologien heraus, und schließlich lassen sich drittens Umrisse einer Neuropolitik feststellen. Mit den und durch die Neurowissenschaften entstehen spezifische Wissensbestände und Regierungstechniken sowie Formen der Fremd- und Selbstführung, die sich mit Michel Foucault als eine spezifische Gouvernementalität fassen lassen (vgl. Bröckling u.a. 2000; Foucault 2000). Da diese Formation dadurch gekennzeichnet ist, dass über neurowissenschaftliche Wissensbestände, Deutungsmuster und Technologien Macht- und Herrschaftstechniken transformiert werden, charakterisiere ich sie als neurowissenschaftliche Gouvernementalität.