Mit großem Vergnügen bin der Einladung nachgekommen, einen Katalogbeitrag zu schreiben: Im Katalog einer neuen Ausstellung des fantastischen Künstler*innenduos Jakob Lena Knebl & Ashley Hans Scheirl (in den Deichtorhallen Hamburg) .
Szenografien des Staunens
Petra Schaper Rinkel
Doppelgänger sind verstörende Geschöpfe. Paradoxerweise stehen sie für das Andere, obwohl sie einander gleicher als andere sind. Zu den individuellen Doppelgängern kommen noch die Doppelgängerwelten, die Parallelwelten, die utopisch oder dystopisch oder einfach nur anders sein können. Die Figur des Doppelgängers kann Zwilling sein und hat damit einen gleichen Ursprung; sie kann zufällig ähnlich sein und damit die Gefahr der geraubten Identität bergen; sie kann ein Effekt der Spaltung sein, wie beim alternden Bildnis des Dorian Gray oder ein künstliches Geschöpf wie Frankenstein oder ein Avatar.
Mit Doppelgängerwelten verhält es sich ähnlich: Die alten Utopien haben als Doppelgängerwelten ihre eigene Welt in die Ferne oder in die Zukunft projiziert und ein narratives Spiel mit Ähnlichkeit und Differenz geschaffen. So erschienen sie in ihrer eigenen Zeit gerade als die bessere Gegenwelt, retrospektiv dagegen als erschreckend gleich restriktive Zwillingswelten ihrer eigenen Zeit. Weshalb heute auch niemand in den utopischen Zwillingswelten der Vergangenheit leben will.
Dann gibt es noch die aktuellen virtuellen Doppelgänger von Menschen, Städten und Staaten, mit denen die Industrie alles – von individuellen Geschöpfen bis zum Planeten – digital nachzubilden sucht. Als digitale Repräsentanz von Objekten und auch Geschöpfen aus der realen Welt werden sie als digitale Zwillinge bezeichnet, obwohl sie virtuelle, digitale Doppelgänger von Entitäten und Gestalten sind, deren Eigenschaften sie über alle verfügbaren Daten umfassend nachahmen. Der Traum von den virtuellen Doppelgängern besteht darin, die Städte und Menschen der realen Welt über aktuelle Daten möglichst exakt zu simulieren, um sie perfekt zu kontrollieren und ihre Verhaltensweisen im Sinne der unendlichen Fortsetzung der marktkonformen Gegenwart zu steuern. Dies schafft viele neue Möglichkeiten des Identitätsraubs und der unheimlichen Ähnlichkeiten.
Ich habe die Doppelgängerwelt in der Sammlung Falckenberg, die ein Teil der Ausstellung von Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl ist, noch nicht gesehen. Doch mit den schon bekannten Geschöpfen und Anordnungen aus Venedig und Paris, werden in Hamburg die Kontroll- und Identitätsphantasmen der digitalen Doppelgänger und der Utopien als Doppelgängerwelten konterkariert. Denn Knebl und Scheirls Szenografien des Staunens schaffen Immersionsräume, in denen das Gegebene fremd und das Unheimliche des Fremden zum Aufregenden des Neuen wird.
Wenn kugelförmige, grüne Stoffpuppen mit riesigen kupferfarbenen Armen und kleinen Köpfen um eine Badewanne arrangiert sind, Körperteile zu glatten Designobjekten werden, und wenn in Scheirls Malerei die Köpfe des Duos körperlos in dichten Farben und Mustern auslaufen, dann werden sie zu Chimären: Zu Mischwesen aus sich selbst und den umgebenden Artefakten. Subversiv spielen sie mit den oft viel zu freundlichen Vorstellungen der harmlosen Hybriden.
Die Doppelgänger sind in dieser Szenografie des Staunens unter sich. Sie kreieren einen abgeschlossenen Raum und bieten in ihren unendlichen Varianten zugleich eine Chiffre des Aufschließens von sich fortsetzenden unbekannten Welten. Als Bilder und Artefakte des Un-Möglichen und als neue Konstellationen aus den Versatzstücken von Vergangenheit und Gegenwart gehen sie einen Schritt über die analytische Dekonstruktion der Gegenwart hinaus; machen die Erwartung von Weltübergängen der Zukunft zu einer Erwartung des experimentellen Handelns – und stehen damit im queeren Gegensatz zum Retrotopia aller rechten und sonstigen identitätspolitisch Suchenden, die statt des immer ungewissen Handelns auf das Finden von Gewissheiten aus sind.
Während die meisten Parallelwelten – wie auch die meisten Utopien – eine Geste der Einschließung sind, in der das Leben in einer geschlossenen Weltmaschine stattfindet, zerlegen Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl die Versatzstücke von Dominanzen, Vorherrschaften und Konsumwelten, um sie in „Begehrensräume“ zu verwandeln. Diese ziehen einerseits das Begehren in Zweifel und eröffnen andererseits den Raum des Staunens, anstatt diesen erneut einzuschließen.
Die utopischen Doppelgängerwelten der Vergangenheit stoßen aus der heutigen Perspektive ab. Weil sie ihr Glück im vermeintlich endlich geschlossenen Zukunftshorizont finden und gerade nicht mit den Versatzstücken ihrer Vergangenheit spielen. Sich einschließen und einrichten, das ist der existentielle Utopistentraum der Vergangenheit, in dem eine andere Welt neu erfunden sowie mit Ritualen und nützlichen Dingen angefüllt wird, und in dem die Vorstellung von der besseren Welt darin mündet, sie möge immer so bleiben, wie von ihren Schöpfern erdacht wurde.
In den utopischen Doppelgängerwelten der Vergangenheit bestand das Leben aus wohlgeordneter Langeweile. Fast immer einem immergleichen Algorithmus folgend, so, wie in Thomas Morus‘ bestem aller Staaten Utopia mit seinen vierundfünfzig gleichen Städten, in welchen das Leben überall gleich verlaufen musste, weshalb es kein Entrinnen gab. Alles in ihnen ist praktisch, bloß nicht verspielt, niemals überbordend, weder geschmückt noch überladen. Das einfache Leben war die Gegenwelt zur Brutalität im Frühkapitalismus; in dem die mörderische Armut der einen durch das ausbeuterische Anhäufen von Luxus der anderen bedingt war. Meist war das Leben in den Doppelgängerwelten schlicht und bescheiden gedacht, mit wenig Ungleichheit und viel Kontinuität, als habe sich jeglicher Sturm der Veränderung für immer ausgetobt.
Auch die heutigen digitalen Zwillinge von Städten, Staaten und Individuen dienen als virtuelle Doppelgänger dazu, Kontinuität durch Steuerung herzustellen; alles so zu steuern, als gäbe es eine Zukunft, in der alle Widersprüche sich harmonisch aufheben, in der die Großstädte grün wie das Landleben sind und das grüne Wachstum auf wundersamerweise zum Luxus für alle führt. Denn die virtuellen Doppelgänger der Simulation können immer nur fortführen, was es schon gibt. Das Verfahren der Weltenverdopplung in klassischen Utopien und in den virtuellen Welten der Simulation entspricht am ehesten den Enzyklopädisten des achtzehnten Jahrhunderts: Als Doppelgänger der je aktuellen Welt bestehen die neuen Welten aus Dingen, die es schon gibt, die alle haben wollen, die hergestellt und verteilt werden müssen. Auf jeden Fall verwirren sie nicht, diese Welten. Die Schöpfer*innen der alternativen Verdoppelung hatten lange die Aufgabe, Regeln für die Herstellung, Verteilung und Verbrauch der Dinge festzulegen, Strafen für Verstöße zu ersinnen und ewige Ordnungs- und Gestaltungssysteme zu erfinden. Utopien gehörten zu den zukunftsgewandten und universalistischen Narrativen ihrer Zeit (auch wenn die Nachgeborenen immer wieder die Begrenztheit des Universalismus zu identifizieren in der Lage waren): Sie wollten aus der doppelgängerischen Welt der Zukunft entfernen, was als ungerecht in ihrer Zeit erschien. Sie wollten das Eigentum gleicher verteilen, Ungerechtigkeit abschaffen und allen ein gutes Leben – unter den Bedingungen der Knappheit – ermöglichen. Knappheit war früher eben da, weil es ohne Maschinen der Arbeit aller oder vieler bedarf, damit alle halbwegs auskömmlich leben könnten. Von Thomas Morus‘ Utopia bis zu William Morris‘ Arts-and-Crafts-Bewegung zieht sich das ästhetische Paradigma der Einfachheit, der Schlichtheit, der Naturverbundenheit und damit die Ablehnung (von der Missachtung bis zur Todesstrafe) von allem was als überbordend, als verführerisch und als überflüssig galt. Keine bekannte Utopie – die unbekannten konnten keine politisch-ästhetische Wirkungsmächtigkeit entwickeln – flüchtete aus der nahen Doppelgängerwelt des Bestehenden hin zu einem Doppelgänger des Verdrängten, des vielleicht Unheimlichen, der Tiefenstruktur dessen, was es zu erkunden gilt. Keine überbordend experimentellen Welten, in der bis zum Grotesken weitergespielt wird, um nicht nur in der Negation des Zuviels zu verharren, keine Fluchten aus den essentialistischen und biologistischen Liebes- und Familienkonstellationen der bekannten Welten, keine experimentellen Lebensweisen. Stattdessen Zucht in doppeltem Sinne, im Sinne von Zucht und Ordnung und im Sinne von Menschenzucht. Im utopischen Sonnenstaat des Dominikanermönchs Tommaso Campanella aus dem Jahr 1602 wird die Zucht des optimierten Menschen durch Beamte für Fortpflanzungsangelegenheiten organisiert.
Keine vergangenen Parallelwelten, die ihr Doppelgängersein so weit erkundet haben, dass sie die Varianten der Ähnlichkeit und der Abweichung hin zum Unendlichen erweitern konnten. Auch heute stößt das (nicht nur utopische) Erkunden des Unbekannten an Grenzen: Entweder verschwindet es im unmittelbaren Getrieben-Sein in der beschleunigten Markt- und Wachstumsmaschine oder wird ausgetrieben vom Aufstieg der religiösen Fundamentalismen, die alle, ob christlich, muslimisch, hinduistisch oder jüdisch, die Zukunft zu einem vorherbestimmten Raum zu reduzieren suchen. Einem Raum, in dem die Gläubigen auf jede Welterfahrung des Unbekannten verzichten und nur für die imaginären Gottheiten mit ihren einschränkenden Regeln leben sollen.
Und die Doppelgänger von Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl? Spielen mit allem in utopisch-subversiver Weise, was den Parallelwelten sonst fehlt: Nutzen die unzähligen Rekombinationen zum Spiel mit Weltübergängen, in denen alles unerwartbar wird. Die vielfach hohle Rede vom posthumanen Sein, das mit seinen Umwelten verschmilzt, wird im konsumverspielten Setting zur scherzenden Gestalt: Wenn die dreibeinige Zitruspresse von Philippe Starck, für die der Designer eine Weltraumrakete zum Küchenutensil verwandelte, nun zum Körper einer genderindifferenten Gestalt mit kraftvoller Pose und langem Haar transformiert ist, dann wird das Artefakt zum künstlichen Geschöpf.
Indem sie verlorene und gefundene Artefakte zu retrofuturistischen Inszenierungen verbinden, und auf diese Weise die Kategorien und die Herkunft der Objekte fortwährend durchkreuzen, sie ungewohnt verknüpfen und in stetigen Zitaten auf ein neues Spielfeld setzen, verschwimmen die Grenzen der Dinge mit jenen der Geschöpfe. In den Transitionen des Ultrakünstlichen verabschieden sie die Grenzen der Muster und der Materialen, spielen leichthändig mit glatt und matt, mit Tapetenmustern und Gesichtern, mit Zwei- und Dreidimensionalität, mit Umschmeicheln und Abstoßen, mit Marken-Spiel und Markt-Macht-Spektakel. Rimbauds Formel »Ich ist ein anderer« – mag im neoliberalen Alltag längst zum kategorischen Imperativ des marktkonformen Andersseins verwandelt sein, doch hier beim Doppelgänger-Spiel wird die Selbstverfremdung zur formverspielten Durchkreuzung des Besonderen.
Wenn die materialisierten Zeichen und Ikonen des gegenwärtigen Kapitalismus nicht nur nicht-kritisierbar sind, weil sie in der Kritik doch immer wieder bedeutungsvoll re-aktualisiert werden, dann sind imaginierte Weltübergänge nur mit ihnen, nicht ohne sie möglich. Eine Variante: Leichthändig mit fiktiven und realen Geschöpfen und Artefakten spielen und verspielt die Macht des Begehrens über das Aufeinandertreffen von Ungewohntem erproben. Und durch die „Begehrensräume“ ziehen die retrofuturistisch befreiten Gespenster aus vergangenen revolutionär-spielerischen Zeiten in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, die darauf aus sind, als Artefakt-Geschöpf-Inkarnationen ein Dasein jenseits der Zuschreibung zu führen. Ihre Existenz scheint nicht ursprünglich intentional zu sein, vielmehr entspringt sie dem Spiel ihrer Schöpfer*innen.
Die kennzeichnende Geste des Arrangements ist der ent-identifizierende Effekt in einer Zeit der gefährlichen Neo-Identitätspolitik, die von allen Seiten das Eigentliche, das Ursprüngliche, das Immer-Schon-Dagewesene behauptet, das seine Legitimität nicht aus dem Wollen der im Plural universell gedachten Menschen zieht, sondern aus den rückwärtsgewandten Narrativen des Natürlichen, des Selbstverständlichen. Die Idee des Doppelgängers, der fast immer zu einer Gefahr für sein gespiegeltes Doppel wird, multipliziert den Effekt. Wer den radikalen Eskapismus der bunten Doppelgängerwelt als notwendige Ent-Identifikation von der Gegenwart schätzt, ist offen für die Unabgeschlossenheit der Zukunft.
Die Doppelgängerwelt ist nur temporär ein Ort des Verweilens, ist nicht von Dauer, ist eine Wunscherfüllungsmaschine des Beamens in das Unbekannte, ein Transportmittel für neue Doppelgängerwelten. Wenn aus der Designwelt ein Weltdesign möglich wird, dann kann neues entstehen, das über den konkreten Raum hinausweist. Nun sind die Räume des Begehrens immer unbestimmte Räume, und dies intensiviert noch den Zustand ihrer Unbestimmtheit, eben das Schwebende der Geschöpfe und ihres spielerischen Miteinanders darin. Die leicht unheimlichen Doppelgänger sind durch ihre materielle Gestaltwerdung zu narrativen Artefakten geworden und multiplizieren ein Miteinander von Menschen, Naturen und Objekten. In der Huldigung des Künstlichen und der Metamorphosen verschwindet der Machtanspruch der Harmonie, des Vorgängigen, des Essentiellen – so ist die Doppelgängerwelt nicht mehr Container des Gewohnten, sondern wird zum Gefährt in Unbekanntes. Das Gegenobjekt zu den Identitätspolitiken des vermeintlich Eigentlichen sind Szenografien des Staunens, die‚ wie Das Trunkene Schiff Rimbauds, dieses Schiff, das »ich« sagt und, befreit von Nützlichkeit und vorgestanzten Wegen, von einer einschränkenden Suche nach dem Eigentlichen zu einer Ästhetik der Erforschung führen kann.