Buchbeitrag: Der Zeitraum der Zukunft als politischer Handlungsraum (2006)

Petra Schaper-Rinkel (2006): Der Zeitraum der Zukunft als politischer Handlungsraum. In: Britta Krause, Tania Meyer, Nina Pippart, Dietmar Fricke (Hrsg.). Chronotopographien – Agency in ZeitRäumen. Lang: Frankfurt/M. et.al. S. 185-196
Volltext im Social Science Open Access Repository (SSOAR):
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-127048

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Die Vorstellung, dass die Zukunft ein ZeitRaum ist, der sich qualitativ von der Gegenwart unterscheidet und der sich in der Gegenwart – durch gegenwärtiges Handeln – gestalten lässt, ist eine relativ neue Vorstellung. Erst mit der Renaissance kommt es zu dem entscheidenden Wechsel, in dem Zukunft als weltlich gestaltbar begriffen wird und damit zum politischen Handlungsfeld avanciert: Der Mensch beginnt, sich als geschichtsbildendes Subjekt zu begreifen. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie sich die Konzepte von Handlungsfähigkeit in und für die Zukunft von den Utopien der Neuzeit über die Zukunftsforschung bis zur Nachhaltigkeit entwickelt haben.
Die ersten Utopien der frühen Neuzeit sind Raumutopien. Auch wenn die ersten Utopien der Neuzeit nicht in der Zukunft spielen, sondern in fernen unentdeckten Weltgegenden angesiedelt sind, so sind sie doch eng mit der Herausbildung von Zukunft als eines Handlungsraumes verknüpft: Denn in dem Maß, wie das menschliche Elend nicht mehr als unentrinnbares Schicksal und als von Gott bestimmt betrachtet wird, sondern als Ergebnis des Handelns von Menschen, zeigt sich die Möglichkeit, die Ursachen von Fehlentwicklungen zu beseitigen und damit ein besseres Leben für alle zu erreichen.
Dafür stehen die ersten Utopien: Thomas Morus entwirft in Utopia ein aus heutiger Sicht antiindividualistisches, patriarchales und rigides Gesellschaftssystem: er zeigt jedoch auch, dass das gute oder schlechte Sein der Einzelnen nicht vorgängig von einer unbestimmbaren Macht abhängt, sondern von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich die Einzelnen bewegen. Zentrales Ziel in Morus Utopie ist die Maximierung der verfügbaren Zeit für die Einzelnen. Morus beschreibt, wie seinerzeit die meisten Menschen unentwegt schuften, und trotzdem in Elend leben. Dagegen beschreibt er das Leben im utopischen Gemeinwesen als eines, dass allen bei einer täglichen Arbeitszeit von nur sechs Stunden ein ausgewogenes und sorgloses Leben bieten kann. Da Morus bei seinem idealen Gemeinwesen von den begrenzten Ressourcen einer Agrargesellschaft ausgeht, sind eine umfassende Arbeitspflicht, eine zentrale Bewirtschaftung der knappen Ressourcen und ein striktes Luxusverbot vorgesehen. Allerdings sind die Bürger Utopias nicht Subjekte der Politik. Sie sind der Fürsorge und Kontrolle der öffentlichen Instanzen unterworfen, die das Funktionieren der Einzelnen und des Gemeinwesens überwachen. So gibt es zwar eine individuelle Verfügung über die eigene Mußezeit, doch es gibt keine Zukunft im Sinne einer gesellschaftlichen Weiterentwicklung.
Im 18. Jahrhundert entsteht das Genre der Zivilisationskonstruktionen, in denen ferne Inseln mit utopischen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht mehr entdeckt, sondern von ihren Entdeckern gemacht werden. Die Utopie als eines realisierbaren Projekts beschreibt Johann Gottfried Schnabelmit der Insel Felsenburg (1731), in der die schiffbrüchigen Entdecker der Insel zugleich ein neues Gemeinwesen aufbauen. Während bei Morus und in anderen frühen Utopien die Individuen Funktionsträger der jeweiligen Gemeinschaften sind, werden nun von Schnabel konkrete Individuen mit ihren individuellen Lebensschicksalen geschildert, die unter konkreten Bedingungen ein Gemeinwesen konstruieren und deren Glücksansprüchen dieses Gemeinwesen erfüllen soll. Die zweite Neuerung ist die Zeitutopie. Im Gegensatz zu den bisherigen Raumutopien wird das ideale Gemeinwesen in die Zukunft projiziert und wird damit zu einer zukünftigen Entwicklungsstufe der eigenen Herkunftsgesellschaft. Mit Louis Sébastien Merciers Roman Das Jahr 2440 (1771) wird das ideale Gemeinwesen erstmals in die Zukunft verlegt. Er beschreibt die Zeitreise eines Menschen aus dem Paris des Jahres 1769 in das Paris von 2440. Damit ist der Schritt vom Vorhandenen zum zu Schaffenden und von der Gegenwart in die Zukunft getan. Die Zukunft wird konzeptionell Schritt für Schritt zu einem politischen Handlungsraum.
Mit der Industrialisierung entstehen utopische Konzepte, wie sich individuelle Zeitsouveränität und allgemeiner Wohlstand durch die industrielle Produktionsweise miteinander verbinden lassen. Die Gleichheit ist nicht mehr eine Gleichheit in der Einschränkung auf das Notwendige und Vernünftige. Nun steht statt dessen die Gleichheit des Reichtums auf der Tagesordnung. Die Verfügung über die Zukunft wird unterschiedlich konzipiert: Claude Henri de Saint-Simon, der den Horizont der Agrargesellschaft überschreitet, erschließt die Potentiale der Industriegesellschaft für das utopische Denken und bricht damit mit dem utopischen Paradigma des Verzichts. Durch die Zunahme des gesellschaftlichen Reichtums erwartet er, dass die Interessengegensätze zwischen den Besitzern und Nicht-Besitzern der Produktionsmittel bedeutungslos werden. Der Staat verschwindet in der wirtschaftlichen Organisation, und die Ordnung der Fabrik wird auf die gesamte Gesellschaft übertragen. Eine ganz andere Perspektive entwickelt Robert Owen. Als Mitbesitzer und Leiter einer großen Baumwollspinnerei in New Lanark in Schottland führt er beispielhafte betriebliche Sozialreformen durch, um die materielle und soziale Lage der Fabrikarbeiter entscheidend zu verändern. Statt einer zentralisiert gesteuerten Wirtschaft setzt er in seinen Schriften auf dezentralisierte Produktivgenossenschaften. Owen beschränkte sich nicht darauf, seine Utopie zu beschreiben, er geht auch in die USA, um Musterkolonien aufzubauen (die allerdings scheiterten). Zukunft wird im 19. Jahrhundert offen und gestaltbar begriffen. Mit dem Fortschritt, der in der Zukunft erwartet wird, erscheint die Zukunft als ein Zeitraum, der die Gegenwart qualitativ übertreffen wird. Der Erste Weltkrieg, der Faschismus, der Zweite Weltkrieg, die Atombombe – aber auch die alltägliche technische Rationalisierung des Lebens durch die Industriegesellschaft – zeigen die Zerstörungskraft von Wissenschaft und Technik. Die Zukunftsforschung, die sich in den 60er Jahren entwickelt, ist daher fern von den optimistischen und zeitlich weit in die Zukunft reichenden Vorstellungen, die in den ersten zwei Jahrzehnten des Jahrhunderts den Diskurs bestimmten. Prognosen über die Zukunft zu erstellen und die Abhängigkeit unterschiedlicher Szenarien von politischen Maßnahmen aufzuzeigen, ist aus der Sicht der Zukunftsforschung die Voraussetzung für die politische Gestaltung der Zukunft. Allerdings ist Zukunft in der traditionellen Zukunftsforschung, die primär die jeweiligen Regierungen berät, normativ nicht ergebnisoffen. In klassisch modernisierungstheoretischer Perspektive wird von einem zielgerichtet zu erreichendem Gleichklang von wachsendem globalem Wohlstand und der Ausdehnung westlich-kapitalistischer Gesellschaftsformationen ausgegangen.
Seit den siebziger Jahren verändert sich die Vorstellung vom Handlungsraum der Zukunft. Seit sich die Grenzen des Wachstums abzeichnen, wächst erstens das Wissen um die Gefahr, die ökologischen Lebensgrundlagen zu zerstören. Die langfristige Zukunft verliert ihre Selbstverständlichkeit. Die neuen sozialen Bewegungen organisieren sich gegen die Kriege (anfangs insbesondere gegen den Vietnamkrieg), gegen die globale Ungleichheit, gegen ökologische Zerstörung und gegen die patriarchalen Geschlechterverhältnisse und entwickeln alternative Zukünfte zu den bestehenden Herrschaftsverhältnissen. Mit Ernest Callenbachs Ökotopia erscheint 1972 eine Utopie, in der die Themen der sich seinerzeit formierenden neuen sozialen Bewegungen aufgegriffen werden. Die (idealtypischen) Kommunen der siebziger Jahre werden weitergedacht zu einem Staatssystem, in dem die Kommune nicht mehr Gegenmacht zur bestehenden Macht ist, sondern zu einem stark dezentralisierten, sozialstaatlich ausgerichteten, föderalistischen politischen System mit einem hohen Maß an Partizipation erweitert wurde. Ursula Le Guin entwirft in ihre Roman Planet der Habenichtse jenseits etatistischer Positionen ein politisches Gemeinwesen namens Anarres, dass auf einem unwirtlichem Planeten gleichen Namens begründet wird und das insofern mit extremen ökologischen Restriktionen konfrontiert ist. Diese anarchistische Gegenwelt ist zudem gefährdet, denn die freie Zusammenarbeit von Gleichen wird durch Bürokratisierung untergraben. Entgegen der Statik von räumlich abgetrennten, vermeintlich für sich allein existierenden Gemeinwesen hebt LeGuin die Interdependenz gerade von gegensätzlichen Gesellschaften hervor, die nicht nebeneinander existieren, sondern in einem gegebenen Raum mit- und gegeneinander agieren.
Diese Sicht der Welt und der Zukunft als eines Raumes der Interdependenz kennzeichnet auch den Nachhaltigkeitsdiskurs der achtziger Jahre. Nachhaltige Entwicklung bezeichnet eine Entwicklung, welche den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Diese Kompromissformel soll in globalem Maßstab die Umwelt schützen und zugleich Entwicklung – also Wirtschaftswachstum – ermöglichen. In dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung wird die globale Zukunft zu einem notwendigerweise gemeinsamen Handlungsraum. Das Wissen um die Endlichkeit der Zukunft, die sich bei dem Tempo und in der Form des heutigen Wachstums gerade nicht mehr lange fortführen lässt (auch wenn niemand genau weiß, wann die Grenzen der Belastbarkeit der interdependenten Ökosysteme erreicht sind), führt dazu, dass die zeitliche Dringlichkeit von Veränderungen hin zu einer nachhaltigen Entwicklung zunehmend thematisiert wird. Doch das Primat der nationalstaatlichen Wettbewerbsfähigkeit, dass die Politik der Industriestaaten bestimmt, führt dazu, dass das Prinzip einer nachhaltigen Entwicklung als ein nachrangiges Ziel gehandhabt wird. Während der Handlungsdruck wächst, nehmen Handlungswillen und Handlungsfähigkeit staatlicher Politik zur zielgerichteten Gestaltung der Zukunft in Richtung Nachhaltigkeit ab. Die Zukunft, die seit der frühen Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts konzeptionell ausgedehnt wurde und unendlich erschien, erweist sich als mehrfach endlich. Die Zukunft scheint der Gegenwart einerseits immer schneller entgegenzurasen, die Beschleunigung des gesamten Lebens verunmöglicht aber zunehmend die Gestaltung von Zukunft.