Petra Schaper Rinkel, Europa im Jahr 2051: Ein offenes Innovationsökosystem für Alle in: Reset Europe. Impulse für die Zukunft Europas, Herwig Hösele, Lojze Wieser (Hg.), Wieser Verlag, 2021, S. 233-237; pdf zum download
Wir leben im Jahr 2051. Europa zieht mit seinem offenen Wissenschafts- und Innovationssystem noch immer viele Menschen aus aller Welt an, die gemeinsam mit anderen an komplexen Fragen forschen und interdisziplinäre Antworten erarbeiten. In Europa sind Cluster von gut ausgestatteten, international renommierten Universitäten entstanden, die gemeinsam mit und für die Gesellschaft das postfossile Zeitalter technologisch, sozial und kulturell weiterentwickeln. Bildung ist immer noch Grundlage für Innovation, aber auch zentral für die allgemeine Lebensqualität, denn die Arbeitszeit sinkt weiterhin. Über die selbstverständliche Bereitstellung von dem, was einst als Open Educational Resources bezeichnet wurde, ist Bildung längst für alle zugänglich geworden. In den Universitätsclustern werden Lehr-Module gemeinsam genutzt und können bei Bedarf über automatische Übersetzungssysteme auch von denen genutzt werden, die andere Sprachen sprechen. Bürger*innen, Unternehmen, Universitäten und viele neue Akteure – Stiftungen, NGOs – arbeiten in losen globalen Netzwerken zusammen, um schnell Antworten für neue Probleme zu finden. Da Forschungsergebnisse von Universitäten und öffentlichen Forschungseinrichtungen online und kostenlos publiziert und verbreitet werden, haben Forscher*innen aus dem globalen Süden nicht nur Zugang zu Publikationen, sondern über die Europäische Wissenschaftsplattformen auch Zugang zu allen Daten und Instrumenten von Data Analytics. Diese Mechanismen von Open Scholarship konnten nur wirksam werden, weil Europa offene, gemeinsam genutzte Infrastrukturen an öffentlichen Hochschulen umfassend gefördert hat. Offene, vernetzte Infrastrukturen sind aus den bescheidenen Anfängen der European Open Science Cloud (EOSC) hervorgegangen und bilden die Grundlage für das Netzwerk offener und zugleich öffentlicher europäischer Plattformen, auf denen die Kollaboration stattfindet.
Bis weit in die 2020er Jahre waren Politik, Wirtschaft und Wissenschaft in Europa von Cloud-Infrastrukturen, Betriebssystemen und Plattformen einiger weniger globaler Unternehmen abhängig und waren entsprechend eingeschränkt, wenn es um radikale Innovationen ging. Die damals führenden Digital-Unternehmen (GAFAM nach den seinerzeit bekannten Oligopolen namens Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft genannt) akkumulierten die Datenprofile fast aller Menschen, steuerten das individuelle Verhalten, kontrollierten die digitale Öffentlichkeit und den Journalismus und höhlten demokratische Prozesse durch ihre politischen Einfluss aus. Freiheit, Pluralität und Bürger*innenrechte konnten zunehmend weniger sichergestellt werden; die Begeisterung für Europa zerfiel. Mit der privatisierten Plattformökonomie der GAFAM Unternehmen und ihrer chinesischen Pendants drohte das europäische Modell der Sozialstaaten und die Idee einer solidarischen Politik der Umverteilung zu verschwinden. Die damals reichsten Unternehmen der Welt hielten ihre NutzerInnen über die Netzwerkeffekte auf ihren Plattformen gefangen, konnten aufgrund ihres Investitionsvolumens potentielle Konkurrenz und anschlussfähige Unternehmen jederzeit kaufen oder verdrängen und beherrschen das, was zuvor erfolgreiche Industriestaaten auszeichnete: Sie dominierten die Entwicklung der damaligen Schlüsseltechnologien (KI, Machine Learning und Big Data) als auch die Systemintegration von Schlüsseltechnologien und beherrschten damit das Innovationsökosystem. Ein heute selbstverständlich öffentlicher, demokratisch kontrollierter universeller Service war damals privat. Europäische Unternehmen, Bürger*innen und Staaten zahlten stark steigende Gebühren und Lizenzen während Gewinne in Europa schrumpften und das Steueraufkommen sank.
Der Weg aus dem bequemen Gehäuse der digitalen Hörigkeit Europas war mehr als konfliktreich, die Regulierung der Giganten durch die Europäische Kommission war ein erster Schritt. Die Wende kam, als Europa begann, ein offenes Innovationsökosystem aufzubauen. Was die Techgiganten einst groß gemacht hatte, nutzte Europa nun für sich: Von den besten der geschlossenen Innovationsökosysteme lernen, aber die maximale Offenheit ‚by Design‘ in die Systeme implementieren: Netzwerkeffekte nutzen ohne Nutzer*innen gefangen zu halten; Systemintegration von Schlüsseltechnologien in einem offenen, öffentlichen und interoperablen Innovationsökosystem, sinkende Kosten für die Nutzer*innen bei steigendem Steueraufkommen. Die Logik der konkurrierenden Giganten war auf den extremen Wettbewerb gerichtet, sie mussten wachsen oder gingen unter. Mit der vollen Interkonnektivität der dezentralen öffentlichen und privaten Cloud-Landschaft in Europa wurde der Zwang zum quantitativen Wachstum obsolet, die Logik der Materialschlachten hatte ein Ende und der Weg für qualitatives Wachstum in den planetaren Grenzen wurde möglich. Nun wachsen Güter, die eben nicht mehr auf Konkurrenz, sondern auf Kooperation gerichtet sind. Solidarität, ein im Hyperwettbewerb nur abstrakter Begriff, konnte gelebte Praxis werden.
Heute bestimmen alle Akteure ihre Rahmenbedingungen der Plattformen, Clouds und Hyperscaler gemeinsam. Die Auswirkungen dieses Paradigmenwechsels und der Entwicklung skalierbarer, Open-Source-basierter Infrastrukturen sind seit Ende der 2020er Jahre enorm: Offene und öffentliche Wissenschaftsinfrastrukturen haben es ermöglicht, dass Forschungsdaten und die Daten des öffentlichen Sektors in Echtzeit für Alle verfügbar sind. Für die Nutzung der vernetzten, offenen Kollaborations- und Handelsplattformen in Europa fallen heute weitaus geringere Kosten an als zu der Zeit, als europäische Unternehmen und Verbraucher von einigen wenigen globalen Plattformen abhängig waren. Die offenen europäischen Innovationsökosysteme haben Open Innovation zur Selbstverständlichkeit gemacht, den demokratischen Diskurs zur Selbstverständlichkeit gemacht und geben neuen Akteuren die Chance, ihre Ideen gemeinsam zu entwickeln und zum Erfolg zu führen. Mit dem steigenden Steueraufkommen wurde umfangreich in die weitere Dekarbonisierung der Wirtschaft investiert, eine weitreichende Umverteilung ermöglicht und die öffentlichen Forschungs-, Bildungs- und Gesundheitsdienstleistungen vervielfacht. Wir leben im Jahr 2051. Offenheit ist wieder zum bestimmenden Merkmal der Wissenschaft geworden. Die zugrunde liegende Idee ist mächtiger denn je: Theorien, Konzepte, Ergebnisse und Daten stellen ein gemeinsames Gut der Menschheit dar, das frei geteilt wird, um neue Ideen zu entdecken, zu entwickeln und zu nutzen.