Verschwindet die Zukunft im Innovationsrausch? Artikel in Agora 42

Wir brauchen mehr Innovation – wenn die zeitgenössische Politik ein Mantra beschwört, dann dieses. Allerorten wird über digitale Innovationen als Boten der Zukunft gesprochen, Regierungen streben nach technischen Lösungen und ökologischem Wachstum. Gleichzeitig ändert sich dabei nichts. Wie passt das zusammen?

Das beschleunigte Vorantreiben von Automatisierung, Robotik, Künstlicher Intelligenz und der 5G-Infrastruktur mit höherem Datendurchsatz soll Wirtschaft, Wissenschaft, Gesundheitspolitik sowie das Weltklima retten. Entsprechend dieses Paradigmas wird immer und überall etwas Neues eingeführt, denn das Neue lässt sich am einfachsten legitimieren, wenn es mit einer technischen Neuerung verbunden ist. Innovationen, insbesondere die Neuerungen der digitalen Welt, sollen die Quadratur des Kreises ermöglichen: Dank innovativer Kreislaufwirtschaft, intelligenter Produktionssysteme und Elektromobilität soll die Klimakrise bei weiterhin steigendem – natürlich grünem – Konsum überwunden werden. Und Dank innovativer digitaler Apps soll die digitale Entgiftung, das „Digital Detox“, möglich werden – etwa durch eine App auf dem Smartphone, die uns dabei hilft, es nicht mehr zu nutzen. So offenbart der Innovationshype die Paradoxie, viel zu erfinden, ohne grundsätzlich etwas zu ändern. „Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern“, lautet ein viel zitierter Satz im Roman Der Leopard des italienischen Schriftstellers Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Er lässt sich wie ein Kommentar zur heutigen Zeit lesen.

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Zwischen Traum und Alptraum

Die wachsende Quantified-Self-Bewegung nutzt digitale Apps, Zahlen und Kurven, um zu einem gesünderen Leben zu finden und die eigene Leistungsfähigkeit maximal zu steigern. Wenn Self-Tracker dank unentwegter Leistungsbereitschaft in der Erschöpfungsdepression gelandet sind, dann bieten innovative Reiseveranstalter eine Woche Achtsamkeitsmeditation im Kloster, um zu der toxisch gewordenen Beschleunigung des Lebens Abstand zu gewinnen und für den Wettlauf wieder fit zu werden. Das Modell von technischer Innovation, Rationalisierung, Steigerung von Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum, Wohlstand und Konsum pendelt zwischen Traum und Alptraum.

Das Innovationsmodell, das da lautet, dass jede überbordende Innovation mit einer komplementären Innovation überwunden wird, ist zudem global nicht verallgemeinerbar. Mittlerweile wissen wir, dass viele Planeten Erde nötig wären, um das US-amerikanische oder das europäische konsumbasierte Lebensmodell allen Menschen zu ermöglichen. Aber nicht nur die planetaren Grenzen für Ressourcen und Emissionen verweisen auf das notwendige Ende dieses Modells, sondern auch die Glücksforschung: Der Weltglücks-Report der Vereinten Nationen sowie die versammelten Erkenntnisse von Hirnforschung, experimenteller Wirtschaftsforschung und Sozialpsychologie zeigen, dass uns die Trias von Innovationen, Wettbewerb und Wachstum nicht länger glücklich macht. Die Mehrheit der Menschen in Europa lebt heute ein luxuriöseres Leben als es für den französischen Sonnenkönig überhaupt vorstellbar war. Warum ist dann die Depression die Krankheit dieses Wohlstandslebens geworden?

Von kreativer Neuerung zum Innovationszwang

Das Streben nach Innovation, Innovation im Sinne kreativer Neuerung, ist dem Zwang zur Innovation gewichen. Dieser Zwang zur Innovation ist mit einem veränderten Wettbewerb verbunden. In der Vorstellung vom Wettbewerb im Sinne des Wetteiferns in den schönen Künsten, beim Tanzen, Musizieren und in der Literatur, wie sie die Utopisten des frühen Industriezeitalters entworfen haben, ging es darum, Rationalisierung und Innovation zu nutzen, um Menschen von der Arbeit des Alltäglichen zu entlasten. Charles Fourier begeisterte sich im Jahr 1808 für eine utopische Zukunft, in der ungefähr jedes achthundertste der „Kinder beiderlei Geschlechts“ die Fähigkeiten haben würde, „den Größten der Geschichte zu gleichen, einem Homer, Caesar, Newton“. Innovation diente in diesem Sinne dem besseren Leben.

Aus diesem kreativen Wetteifern ist heute ein knallharter Erfolgswettbewerb geworden. Es geht immer weniger darum, mit guten Büchern oder guter Musik den Blick auf die Welt zu erweitern oder dem Vergnügen und der Selbstaufklärung des Menschen einen weiteren Beitrag zu bieten. Stattdessen messen wir unsere Leistung am Erfolg: Wer verkauft die meisten Bücher, wessen Musik kann die meisten Downloads nachweisen, wessen Kunstwerke werden auf dem globalen Kunstmarkt am höchsten gehandelt? Wenn aber Erfolg (der immer von anderen abhängt) der allgegenwärtige Maßstab ist und Leistung (die subjektiv erbracht wird) nicht mehr an und für sich wertvoll ist, sondern nur noch insofern, als sie quantifizierbare Erfolge vorweisen kann, dann ist Innovation immer das, was gerade dem gegenwärtigen Horizont dient: bloß nicht zu neu, sondern den Geschmack der Zeit treffend.

Das immergleiche Neue

Innovation soll also die Zukunft sein und doch beschleicht Viele der Eindruck, dass es sich um eine Zukunftsreproduktion handelt, die nur eine Verlängerung der Gegenwart ist. Zukunft bedeutet, neu beginnen zu können; in Freiheit zu handeln, statt sich nur in Routinen zu verhalten. Ist unser Verhalten durch intelligente Smartphone-Maschinen gesteuert? Steuern wir die hypervernetzten Maschinen? Daran entscheidet sich, ob wir die Zukunft in die Hand nehmen können, oder ob uns die Maschinen und Märkte der künstlichen Intelligenz in einer ewigen Gegenwart unserer Verhaltensroutinen gefangen nehmen. Siri und Alexa, die Dienste von Amazon und Google, von Apple und Facebook: Sie alle wollen, dass wir die Zeit mit ihnen und nicht mit der Konkurrenz verbringen. Jeden Tag lassen wir uns bequem und zeitsparend steuern, ohne dass es uns auffällt. Wir klicken mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die ersten zehn Ergebnisse unserer Suchmaschine; wir nehmen den Weg, den unsere Karten-App bietet. Wunderbar bequem, diese digital nahe Zukunft. Aber manchmal, wenn wir uns auskennen, dann merken wir: uns fehlen Seiten und Wege, die wir kennen, die wir schätzen, die wir empfohlen hätten.

Je fremder ein Ding oder eine Stadt ist, desto eher verlassen wir uns in unserer Maschinen-Symbiose auf unsere Smartphones. Wir wissen immer weniger, ob wir selbst klug entscheiden oder ob wir künstlich-intelligent entschieden werden. Doch eine Zukunft, die nicht nur eine Verlängerung der Gegenwart ist, setzt voraus, dass wir die Möglichkeit des Neu-Anfangens haben – ja, dass wir tatsächlich neu beginnen. Das Anfangen-Können braucht den Sprung aus dem Modus des Gesteuert-Werdens, des automatisierten Verhaltens, in den Modus des Handelns. Das Motto der Aufklärung „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ meint auch heute noch das Wagnis der Eigenverantwortlichkeit, der Autonomie. Das heißt: Erkenne, wo du dich heute nur noch ferngesteuert verhältst und lerne, dass die Smartphones dieser Welt nicht deine ergebenen Diener sind.

Zu wissen, wie wir gesteuert werden, warum wir welche Geschichten und welche Wege aufgezeigt bekommen, ist die Voraussetzung dafür, wieder maschinell unregierbar zu werden – damit der Boom der technischen Innovationen nicht ein Boom der vorgefertigten Zukunftsschablonen bleibt, in die wir uns fraglos einfügen. Zukunft ist Handeln auf das Unbekannte hin. Aber dafür müssen wir wissen, wohin wir derzeit geführt werden und anfangen uns zu verständigen, wohin wir wollen. Zukunft heißt: gemeinsam aufbrechen und ausbrechen aus einer Innovationsdynamik, die nur immer mehr des Ähnlichen produziert.

Petra Schaper Rinkel ist Professorin für Wissenschafts- und Technikforschung des digitalen Wandels und Vize-Rektorin für Digitalisierung an der Karl-Franzens-Universität Graz. Im Dezember erscheint ihr neues Buch Fünf Prinzipien für die Utopien von Morgen im Picus Verlag.

Petra Schaper Rinkel, „Verschwindet die Zukunft im Innovationsrausch?“, Agora 42: Innovation, Ausgabe 1/2020, S. 9-11