Unterwegs nach Utopia. Artikel im Südwind-Magazin 11/2022

Petra Schaper Rinkel, Unterwegs nach Utopia, in: Südwind-Magazin, 11/2022, Seite 28-31.

In einer von Ungerechtigkeit, Gewalt und planetarer Zerstörung bedrohten Gegenwart führen Utopien als Gedankenexperimente vor, dass alles auch ganz anders sein könnte.
Von Petra Schaper Rinkel

Epochen radikaler Umbrüche brachten jeweils eine Welle an wirkmächtigen Utopien mit sich: In der Renaissance wie in der Industrialisierung wurden Ungleichheit, Ungerechtigkeit und willkürliche Herrschaft in Utopien gedankenexperimentell abgeschafft und befeuerten die Kämpfe gegen Sklaverei, Feudalismus und Ausbeutung. Als Thomas Morus seinen Entwurf Utopia 1516 veröffentlicht, prangert er an, wie die expansive Schafzucht der Reichen im England seiner Zeit die Felder und Dörfer verwüstet und damit die Landbevölkerung vertreibt. Die Parallelen zur heutigen Vertreibung durch Rodungen im Amazonas, durch die Extraktion von Gold und seltenen Erden sind unübersehbar. So wäre die disruptive Gegenwart die richtige Zeit für neue Utopien – eben auf dem Stand der heutigen Kämpfe und mit Regeln, die der (immer imaginären) Menschheit von heute entsprechen. Noch wissen wir von keiner, aber einige Prinzipien für die Utopien von Morgen könnten ein Beginn sein. 

Vor 125 Jahren versinnbildlichte eine seinerzeit einflussreiche Utopie das Verhältnis von Arm und Reich als „riesenhafte Kutsche“ vor die „Massen der Menschen gespannt waren, um sie mühselig auf einer sehr hügeligen und sandigen Straße dahin zu schleppen“. Im komfortablen und gut geschützten Wagen saßen die Passagiere, „die niemals abstiegen, selbst nicht an den steilsten Stellen“. Jeder wollte um jeden Preis einen der Sitze ergattern, konnte sie nach Belieben vererben, aber eben auch herausfallen und damit fortan gezwungen sein, selbst „den Strick zu ergreifen“ und vor die Kutsche gespannt zu sein. Dieses Bild, das Edward Bellamy 1987 von den USA zeichnete, passt heute in Zeiten der Festung Europa nicht nur auf die sich zuspitzende Lage innerhalb der alten Industriestaaten; vielmehr auch global. Wenn Privateigentum und Reichtumskonzentration das Problem der Zeit sind, wie könnte die Welt denn anders funktionieren? Bellamys Protagonist wacht im Jahr 2000 auf. Eingeschlafen ist er im Jahr 1887. In der Welt des neuen Jahrhunderts verfügen alle über eine Kreditkarte, die jedem und jeder jährlich den gleichen Betrag gutschreibt. Bei hoher Lebensqualität geht es friedlich und zivilisiert zu, weil eben das Spannungsverhältnis von Eigentum, Arbeit und Lebensqualität in neuer Weise organisiert ist: Alle haben gleich viel Geld und können unterschiedliche Lebensentwürfe verfolgen während nicht mehr das Geld, sondern die Arbeit ungleich verteilt ist (aber eben nicht ungerecht). Wenn sich für eine gesellschaftlich notwendige Arbeit zu wenige Menschen finden, so wird die tägliche Arbeitszeit für diese Tätigkeit so weit heruntergesetzt, bis sich genug Interessierte finden. Wer ein Buch schreiben möchte, arbeitet wenige Stunden in einem unbeliebten Beruf, um genug Zeit zum Schreiben zu haben. Sollte sich das Buch gut verkaufen, kann eine Autorin so viele Jahre weiterschreiben, wie die Einnahmen das Jahreseinkommen decken. Mit seiner Utopie, dem »Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887«, die gleich nach ihrem Erscheinen im Jahr 1888 zu einem internationalen Bestseller wurde, verweist Edward Bellamy zugleich auf das utopische Verfahren: Den herrschenden Verhältnissen wird eine andere Welt gegenübergestellt, die die alles bestimmende Ungerechtigkeit aufhebt. Bellamys Idee, das Verhältnis von Arbeit und Einkommen grundlegend zu verändern, ist trotz des Welterfolgs seines Buches kaum aufgegriffen worden. Wohl auch deshalb nicht, weil die politische Organisation der Ökonomie, in der eine Gerontokratie mit Arbeitsarmee die Arbeitsbereitschaft aller sichern soll, den heutigen Ansprüchen an demokratischer Teilhabe, Geschlechtergerechtigkeit und politischer Freiheit nicht entspricht. Aber Utopien müssen nicht als Modelle begriffen werden, können mit ihren tragfähigen Ideen vielmehr als Gedankenexperimente gelesen werden, die der von Ungerechtigkeit, Gewalt und planetarer Zerstörung bedrohten Gegenwart vorführen, dass es auch ganz anders sein könnte und die als Experimente dann eben auch weitergedacht und neu konfiguriert werden können. Experimente zeichnen sich gerade durch den Wandel der Bedingungen aus, womit die Grundidee von Bellamy heute eine andere Form annehmen kann, denn mit der Zukunft von Automatisierung und Robotik ist immer weniger Erwerbsarbeit gesellschaftlich notwendig. Und so sind die (Zwangs-)mechanismen, die in früheren Utopien erdacht wurden, damit alle ihren Anteil an Arbeit übernehmen, obsolet. Eine erste Regel für die Utopien der Zukunft wäre insofern: Utopien sind keine Modelle. Vergangene Utopien können als Commons Ressourcen wie Wissen und Open-Source-Code sein, sind offen und frei zugängliche Ideen für die Utopien der Zukunft liefern.Wenn es eine weitere zentrale Regel gibt, die eine Utopie ausmacht, dann ist es die: eine Utopie muss für alle gelten können.  Futuristische High-Tech Inseln für Reiche sind damit eben keine Utopie. …. Weiterlesen im Südwind-Magazin: https://www.suedwind-magazin.at/magazin/202206/