Mit großen Vergnügen im Gespräch über die klugen Fragen von Carl Aigner und Nela Eggenberger von EIKON der fantastischen Internationalen Zeitschrift für Photographie und Medienkunst. Danke!
N E L A E G G E N B E R G E R : Sie haben Politikwissenschaften, Germanistik und Publizistik an der Freien Universität Berlin studiert und dann eine von der Neugier an technologischen Veränderungen geprägte Karriere eingeschlagen – unter anderem waren Sie am Austrian Institute of Technology, im Vorstand des ScienceCenter-Netzwerks und zuletzt als Professorin für Wissenschafts- und Technikforschung des digitalen Wandels an der Universität Graz tätig, wo Sie zugleich die Funktion der Vizerektorin für Digitalisierung und Internationales innehatten. Welche Neugierde führte Sie letzten Oktober an die Universität für angewandte Kunst Wien?
P E T R A S C H A P E R R I N K E L : Eigentlich ist es umgekehrt: Nicht die Neugier an technologischen Entwicklungen, sondern die Neugier auf die Zukunft hat mich zur Wissenschafts- und Technikforschung gebracht – weil das Neue natürlich in den letzten Jahrzehnten ganz viel mit Technologien zu tun hatte. Für mich steht somit immer die Frage „Wie kommt das Neue in die Welt?“ im Vordergrund. Und Technologien haben einen wesentlichen Anteil an den gegenwärtigen Entwicklungen – wir machen sie mit unserer Nutzung zu dem, was sie sind.
N E : Wo ergeben sich für Sie Überschneidungspunkte zwischen Kunst und Technologie? Diese beiden Begriffe klingen mitunter ja fast wie Gegensätze.
P S R : Für mich geht es gar nicht so sehr um die Schnittstelle zwischen Kunst und Technologie, sondern wirklich um die Künste – ganz wichtig ist der Plural – und die Wissenschaften. Vor zwei Jahren waren konzeptionell und begrifflich mit Donna Haraway und Bruno Latour die beiden internationalen Zentralgestalten der Science and Technology Studies auf der Biennale in Venedig omnipräsent. Dieses Beispiel zeigt ganz starke Konvergenzen zwischen den Künsten und den Wissenschaften, und der Diskurs entwickelt sich ja auch entlang von Begriffen, die in beiden Feldern wichtig sind.
Zentral ist für mich auch die Frage des Politischen, im Sinne von Hannah Arendt: Was verändert sich, wenn wir nicht von dem Menschen, sondern den Menschen ausgehen? Meiner Meinung nach entwickelt sich unser eigenes Selbstverständnis in genau diesem Dreieck des Politischen, der Künste und der Wissenschaften. Das ist für mich der Ausgangspunkt und auch das, was mich an die Angewandte als eine Kunstuniversität mit starkem gesellschaftlichem Anspruch gebracht hat.
C A R L A I G N E R : Seit einiger Zeit geistert das Zauberwort der „digitalen Transformation“ durch viele gesellschaftliche Bereiche. Was bedeutet dies für Sie speziell im Hinblick auf Ihre zukünftigen Aufgaben hier in diesem Haus? Die Angewandte war ja auch immer zwischen Kunst und dem Angewandten verankert.
P S R : Für mich ist die Frage nach der digitalen Transformation schon fast absurd – wir leben schon längst in der Postdigitalität und damit inmitten einer spezifischen Digitalität; so wie wir mit Strom leben und nicht mehr nach der Elektrifizierung fragen. Die digitale Transformation ist ein historisches Thema, aber kein Thema der Zukunft. Es geht darum, wie die heutige Digitalität – kontrolliert von wenigen globalen Konzernen – unser Handeln beherrscht und einschränkt und wie wir es schaffen, das Leben in der zukünftigen postdigitalen Welt wieder in unsere Hände zu bekommen.
C A : Warum ist dieses Schlagwort etwa bei der neuen Digital-Uni in Linz so prononciert im Umlauf? Hat es mit der gesellschaftlichen Wahrnehmung, mit dem gesellschaftlichen Wissensstand zu tun?
P S R : Ich kann dahinter nur Parteipolitik vermuten. Weder die Universitäten noch irgendjemand sonst von uns braucht diesen obsoleten Begriff. In vielen Fächern ist der Begriff des Digitalen schon verschwunden. In den Naturwissenschaften gab es mal Computational Physics, das ist auch schon wieder Geschichte. Alle Wissenschaften sind inzwischen eigentlich digital, auch die Geisteswissenschaften. Wir alle nutzen schon lange nicht mehr primär Bibliothekskataloge, wir nutzen alle Google. Viele digitale Alltagstechnologien sind so omnipräsent, dass wir die permanente Transformation unserer Lebensweise kaum reflektieren. Allerdings leben wir in den Künsten und den Wissenschaften in extremer Weise in einer von wenigen globalen Playern bestimmten Digitalität. Wenn es um irgendetwas geht, dann darum, dass wir die Gestaltung unserer Tools – Werkzeuge und Plattformen – wieder in die Hände der Künste und der Wissenschaften an den Universitäten legen müssen. Wir werden immer nur so viel originär Neues kreieren können, wie wir unsere Werkzeuge im weitesten Sinne selber entwickeln. Das gilt für die Bildwelten der KI genauso wie für Texte, die alle historisch aus den Wissenschaften, aus den Künsten entstanden sind, denn die Texte und Bilder der Vergangenheit, die kanonisiert wurden, sind die Datengrundlage heutiger Systeme. Die globalen Player in der Digitalität – die wenigen, die jetzt unser Leben bestimmen – sind winzige private Zwerge auf den Schultern der öffentlichen Riesinnen der Künste und der Wissenschaften: algorithmische Systeme, die die gesamten klassifizierten Bild- und Textwelten der Menschheit, auch im empathischen Sinne, verarbeiten können. Aber selbst diese Werkzeuge, das maschinelle Lernen wurden von den Wissenschaften, also auch öffentlichen Universitäten entwickelt. Was wäre etwa Google Maps ohne die Wissenschaft der Kartografie über viele Jahrhunderte hinweg, ohne den öffentlichen Schatz einer vollständig kartografierten Welt?
N E : Welche Strategie werden Sie allgemein die nächsten Jahre, in denen Sie die Funktion der Rektorin der Angewandten innehaben, verfolgen, und was sind wichtige Meilensteine dieser Entwicklung?
P S R : Es geht nicht um mich, sondern um uns alle an der Angewandten. Unser Entwicklungsprogramm geht bis 2030, jede Universität muss alle drei Jahre einen Entwicklungsplan vorlegen. Man kann das als bürokratisches Muss sehen, ich denke aber, dass die gemeinsame Überlegung „Wo wollen wir hin?“ etwas Essentielles ist. Drei wesentliche Dinge haben wir vor: Das eine ist, die Frage zu stellen, wie denn die Interdisziplinarität der Zukunft an einer Kunstuniversität aussieht – aus unseren künstlerischen Disziplinen heraus. Wichtig ist, dass dabei kein Nebeneinander entsteht, es soll auch nicht aufgrund äußerer Ansprüche passieren – jetzt, wo sich alle zum Beispiel mit Nachhaltigkeit beschäftigen. Was sind die Gemeinsamkeiten zwischen den Künsten und den Wissenschaften? Das ist etwas, was gesellschaftlich viel zu wenig beachtet wird. Auf beiden Feldern sind die Anfangsprozesse chaotisch, bestehen daraus, sich auf radikal unbestimmte Art und Weise fragend zu nähern. Beim Ergebnis besteht der Unterschied darin, dass wissenschaftliche Publikationen um ihren experimentellen Entstehungsprozess bereinigt wurden, dass der Suchprozess, das Scheitern, das erneute Scheitern – all das, was zu den originären Praktiken in den Künsten, den Wissenschaften und den Gestaltungsdisziplinen zählt – ausgeklammert wird.
CA: Welche Rolle werden dabei die zahlreichen Werkstätten der Angewandten spielen?
PSR: Eine wesentliche, denn wir werden ein Werkstättenhaus des 21. Jahrhunderts entwickeln und damit auch wieder an etwas anknüpfen, was für die Angewandte immer wichtig war: nämlich Materialien, Technologien, das Umgehen mit Materialität, die heute natürlich eng mit digitalen Technologien verknüpft ist. Wir kennen heute alle 3D-Drucker, die Kunststoffe verarbeiten; auch bei Keramik kommt der 3D-Druck zu Einsatz, allerdings nicht standardisiert. Wir wollen die Werkstättentradition neu denken und damit auch das Digitale neu denken, aus dem Materiellen heraus. Dazu ein schönes Beispiel aus unserer Modeklasse: Die Angewandte hat vor über 20 Jahren von einem führenden Textilhersteller eine analoge Strickmaschine erhalten. Nun versucht diese Firma ihre damaligen Geschenke wieder einzusammeln, da man festgestellt hat, dass sie für den Entwurfsprozess unverzichtbar sind, in dieser Phase muss man mit den Händen an analogen Maschinen arbeiten. Und das ist eine wunderbare Anekdote dafür, wo es hingeht: Wir merken jetzt wie stark wir das Arbeiten mit den Händen, auch das Arbeiten miteinander und nicht nur vor Screens, brauchen damit sich wirklich etwas Neues entwickeln kann.
Das dritte große Projekt ist ein KI-Zentrum. Ein Zentrum für Machine Learning in den Künsten, im Design und in den Wissenschaften, in wir uns mit den Möglichkeiten und den Grenzen algorithmischer Systeme beschäftigen. Bisher wurden Professuren für KI primär an Technischen Universitäten aufgesetzt, wo dann mit industrienahen Datenbeständen gearbeitet wird. Wir alle operieren mit Bildern, mit Texten, in der Gestaltung innerhalb algorithmischer Systeme – diese sind bereits vorgegeben und wir können sie wenig beeinflussen. Wie könnte es möglich sein, mit Maschine Learning, mit algorithmischen Systemen an einer Kunstuniversität zu experimentieren und ihre Grenzen zu identifizieren? Wie können aus den Künsten heraus ganz andere algorithmischen Systeme entstehen? Im Moment sind das ja alles Mogelpackungen: Open-AI nennt sich zwar „offen“, aber es ist ja kein System, das in den Händen von Gestalter:innen liegt. Wir wollen einen Knotenpunkt an der Universität aufbauen, um mit algorithmischen Systemen radikal zu experimentieren. Ich denke, dass gerade Kunstuniversitäten mit ihrer grundlegenden Herangehensweise des Experimentellen für genau diejenigen, die einen Schritt weiter gehen wollen – also etwa auch für international gerade heißumkämpften Expert:innen – interessant sind. Deshalb ist es für uns auch ganz wichtig, dass wir, wenn wir so ein Zentrum aufbauen, nicht nur eine Professur bekommen, sondern mindestens drei – für die Bild-, Wort-, und Entwurfswelten, weil es um unterschiedliche Herangehensweisen geht.
CA: Derzeit gibt es zwei Professuren für Fotografie an der Angewandten, eine für den künstlerischen, eine für den angewandten Bereich. In welche Richtung werden sich diese Studien weiterentwickeln und wo werden sie zukünftig über das ursprüngliche Fotografische hinausgehen?
PSR: Zentrale Veränderung ist, dass die digitale Fotografie, inzwischen auch das Bewegtbild, zu einer selbstverständlichen Alltagspraxis geworden ist. Im Gegensatz zu anderen Alltagspraktiken wie Rechnen oder Schreiben haben wir jedoch den Umgang damit nie von Grund auf gelernt. Deswegen müssen wir uns erst dessen gewahr werden, was das das Leben in diesen unendlichen, von uns selbst produzierten Bildwelten überhaupt bedeutet. Das ist etwas unglaublich Spannendes, dass etwas auf einmal da ist, ohne dass wir es merken – wir produzieren und manipulieren unentwegt Bilder, ohne diese Praxis so zu reflektieren, wie das eigentlich notwendig wäre. Früher war ja gerade das Bewegtbild etwas unglaublich Voraussetzungsvolles, technologisch gesehen. Was heißt das nun, wenn Praktiken, die einmal so voraussetzungsvoll waren, heute Alltagspraxis sind? Hier stehen wir noch ganz am Anfang, mitten in einer großen Umwälzung. Oder Manipulation wie Deep Fake: Auch diese Praxis ist schon dabei, technologisch eine Selbstverständlichkeit zu werden. Im Moment ist noch ein gewisses Know-How erforderlich, in kurzer Zeit wird aber auch das etwas sein, das jeder und jede beherrschen wird. In dem Sinne können wir uns bald gar nicht mehr sicher sein, was ein digitales Bild oder Bewegtbild repräsentiert.
CA: Erhält hier das Rezeptionsästhetische nicht eine ganz neue Perspektive? Vielleicht ist die Art und Weise, wie Bilder wahrgenommen werden oder was an Bildern nicht mehr wahrgenommen wird eine der größten zukünftigen Herausforderungen. Schon heute wissen wir nicht mehr, wie real ein Portrait ist. Zugleich müssen wir über diese Diskussion von Fake hinausgehen und fragen, was macht das mit unserem Willen, wie werden wir Bilder überhaupt zukünftig sehen können? Was wird uns an Bildern noch interessieren, wenn ohnehin klar ist, dass die Aussage des Bildes nicht mehr wichtig ist, weil es ja gefaked sein kann?
PSR: Diese Zentralität des Imaginären, die mit der digitalen Fotografie und dem digitalen Bewegtbild verknüpft ist, bedeutet einen umfassenden epistemologischen Wandel. Gerade für Kunstuniversitäten, die immer auch die reflexiven theoretischen Wissenschaften einbeziehen – die Medienwissenschaften, die Bildwissenschaften – ist es spannend, die Verschiebungen in Ästhetik, Wissensgenerierung und alltäglichen Lebenswelten in den Blick zu nehmen. Daher ist an der Angewandten diese Verknüpfung des Tuns, des Experimentierens mit Medien, des Reflektierens und der Theorieentwicklung ganz wesentlich. Algorithmische Systeme sind zugleich Experimentier- und theoretische Reflexionsräume. Weil diese algorithmischen Systeme allgegenwärtig sind und wir diese sowohl beherrschen müssen, als auch im Experiment mit ihnen wiederum sehen, was ihre Präsenz für die gesamte Entwicklung bedeutet, auf der Uni, für die Gesellschaft und im Raum des Politischen. Hanna Arendt sagt, das Politische ist das Miteinander der Menschen im öffentlichen Raum. Unter diesem Gesichtspunkt haben wir eigentlich keine Polis mehr, weil wir letztlich über das digitale Bild und über die Repräsentation im Bewegtbild politische Räume konstituieren. Und das macht ja etwas mit dem politischen Raum, das nehmen wir jetzt schon ganz stark wahr. Für mich ist dieser Plural der Menschen ganz zentral. Algorithmische Systeme vermitteln zwischen uns Menschen im Plural und vermitteln dabei aber die Bildtextwissenswelten der Vergangenheit. Sie machen sie uns zugänglich, sie geben uns das Material, das wir schon immer hatten. Neu ist die Instanz, nämlich die algorithmischen Systeme, die uns Menschen mit dem, was die Menschen der Vergangenheit geschaffen haben verbinden. Damit wir aber wieder in das Miteinander kommen und mit dem, was wir vorfinden, etwas anfangen können, müssen wir die Blackbox dahinter öffnen, um diese Systeme wieder gestaltbar zu machen, für uns als Künstler:innen, als Wissenschaftler:innen und eben als Menschen im Plural – und damit auch als politische Wesen. Das denke ich, ist so zentral.
NE: 2017 feierte die Angewandte ihr 150-Jahr-Jubiläum. Wo sehen Sie, die sich so viel mit Innovationen und Zukunftsfragen beschäftigt hat, die Angewandte im Jahr 2067, zu ihrem 200-Jahr-Jubiläum?
PSR: Die Antwort möchte ich im produktiven Sinne umdrehen: Wenn Kunstuniversitäten in 50 Jahren bedeutungslos sein werden, werden wir in einer dystopischen Welt leben, in der das Politische und damit auch die Demokratie abgeschafft wurden. Wenn die Angewandte und andere Kunstuniversitäten im Jahr 2067 die Bedeutung haben, die heute technische Universitäten haben, dann werden wir in dieser Zukunft eine Welt haben, in der wir sehr gerne leben, in der wir Möglichkeiten gefunden haben, mit Klimawandel umzugehen und in der wir den Raum des Politischen wieder zu dem wichtigsten Raum für uns Menschen im Plural gemacht haben.