Utopien als Experimentalwelten des Zukünftigen. Beitrag für die Publikation Futures Brought to Life, August 2023

Futures Brought to Life

Hier ein Kurzbeitrag für die Publikation „Futures Brought to Life: We are no Futurists“

https://timesup.org/publications/futures-brought-life-publication

Utopien als Experimentalwelten des Zukünftigen

Einige kurze Antworten auf zwei kurze Fragen

Wie lassen sich Zukünfte zum Leben erwecken? // How could one bring futures to life?

Die Zukunft des Planeten braucht die Zukünfte als Gedankenexperimente jenseits des Erwartbaren, jenseits des Wahrscheinlichen, jenseits der Fortführung der Gegenwart. Gerade weil die Zukunft des Planeten (im Singular) das unentwegte Wachstum nicht (er)tragen kann, das Unternehmen und Nationalstaaten in Permanenz anstreben, bietet die Spekulation über unwahrscheinliche Zukünfte (im Plural) den Möglichkeitsraum für eine Zukunft des Planeten. „Jede wirklich neue Idee ist eine Aggression.“ Diese Position von Meret Oppenheim kontrastiert das aktuelle Verständnis von Innovation. Ohne Irritation und Störung der etablierten Erwartungsordnung der Zukunft kann das Neue nicht neu sein und ist die Innovation eher Fortführung der Gegenwart, als Teil der Zukünftigkeit. Die Rede von der Disruption und von disruptiver Innovation beseitigt dieses Paradox nicht, verstärkt es vielmehr, denn nun soll auch die Disruption in die Routine der Zukunftserwartung integriert werden. Zukünfte erscheinen aber gerade aus Suchbewegungen jenseits des Erwartbaren. Zukünftigkeit bedeutet das Überschreiten der Gegenwart: In Gedankenexperimenten und im gemeinsamen Handeln.

How could one bring futures to life?

The future of the planet needs the futures as thought experiments beyond the expected, beyond the probable, beyond the continuation of the present. Precisely because the future of the planet (in the singular) can neither support nor survive the steady growth that companies and nation states are constantly striving for. Speculation about unlikely futures (in the plural) offers the opportunity for a future for the planet. “Every truly new idea is an aggression.” Meret Oppenheim’s stance contrasts the current understanding of innovation. Without irritating and disrupting the established order of expectations for the future, the new cannot be new and innovation is a continuation of the present rather than part of the future. Talk of disruption and disruptive innovation does not eliminate this paradox, but tends to reinforce it instead, because now the disruption has to be integrated into the routine of future expectations. However, futures appear precisely because of search movements beyond the expected. Futurity means going beyond the present: In thought experiments and in taking action together.

Welche Strategien würden Sie empfehlen, um visionäres Zukunftsdenken aufrechtzuerhalten?

Utopien als Gedankenexperimente vereinen spekulativ-variantenreiches und visionär-eindeutiges Zukunftsdenken. Das visionäre Zukunftsdenken kann allerdings dem Schrecken der Gegenwart nur gerecht werden, wenn Ausmaß und Dynamik der Desaster analytisch in der Antizipation einer anderen Zukunft aufgehoben sind. Sowohl Zukunftsvisionen, Dystopien, Utopien und Szenarien sind Interventionen in die unbekannte Zukunft, denn Zukünfte stehen eben nicht in friedlicher Ko-Existenz nebeneinander. Sie überschreiben einander; werden dominant, vereinnahmen andere Zukünfte, nehmen einander den Raum oder geben einander den Raum.  Da das visionäre Zukunftsdenken eine zugleich analytische wie gestaltende Denkweise ist, kann es nur unter Bedingungen weltverändernd wirksam werden: Es muss der Komplexität und Widersprüchlichkeit der Welt gerecht werden; es braucht die verwegene Schärfe, die Schrecken der Gegenwart auf ihren möglichen Wegen in zukünftige Katastrophen analytisch zu fassen und es muss gedankenexperimentell die andere Welt entwerfen können.  Die Utopie des Gedankenexperiments lebt insofern von der real-existierenden Dystopie, denn ohne die Gegenwart des Schreckens wären die Gedankenexperimente einer radikal anderen gesellschaftlichen Rationalität obsolet. Die Beschwörung des Positiven, die Praxis des Likens, der Solutionismus und die individualistischen Versprechen der Positiven Psychologie lassen das Negative nur noch soweit zu, wie es eben handhabbar und lösbar erscheint. Ein Weltverhältnis, in dem jedes globale Problem zu einer Herausforderung umdefiniert wird, zu der es ein passendes Set an vielen, kleinen, einfachen, schnellen und in der Regel technisch-innovativen Lösungen geben soll, wird der Gegenwart nicht gerecht: Dann autoritäre Regime, Diktaturen, Krieg, Folter und die drohende Unbewohnbarkeit der Welt durch Klimawandel haben nur dann keine Zukunft, wenn eben andere Zukünfte gedacht und gemacht werden. Statt des blinden Optimismus der kleinen Lösungen bei großen Bedrohungen gilt es, zu kultivieren, was Antonio Gramsci „einen Pessimismus des Verstandes, einen Optimismus des Willens“ nannte. Wenn der Pessimismus des Verstandes die Probleme der Gegenwart in ihrer Größe und Verzwicktheit analysiert dann kann der Optimismus des Willens tatsächlich die Spekulation gegen das Erwartbare, gegen das Wahrscheinliche und gegen die lineare Zukunft antreiben. Vor mehr als 500 Jahren war das Gedankenexperiment von Thomas Morus ein einsames. Die utopischen Gedankenexperimente der verwobenen Welt des 21. Jahrhunderts brauchen kollektive Gedankenexperimente.

Which strategies do you recommend to maintain visionary futures thinking?

Utopias as thought experiments combine speculatively varied and visionary-unambiguous future thinking. However, visionary thinking about the future can only do justice to the horror of the present if the extent and dynamism of the disasters are analytically balanced in anticipation of a different future. Both visions of the future, dystopias, utopias and scenarios are interventions into the unknown future, because futures simply do not coexist peacefully. They override each other; become dominant, take over other futures, and either take up space or share space with each other.  Since visionary thinking for the future is both an analytical and creative way of thinking, it can only have a world-changing effect under certain conditions: It must do justice to the complexity and contradictory nature of the world; it requires the daring sharpness to analytically grasp the horrors of the present on their possible paths into future catastrophes, and it must be able to design the other world through thought experiments.  The utopia of thought experiments thrives on the real dystopia, because without the presence of terror, the thought experiments of a radically different social rationality would be obsolete. Encouraging the positive, the practice of liking, solutionism and the individualistic promises of positive psychology only allow the negative to the extent that it appears manageable and solvable. A world status quo in which every global problem is redefined as a challenge for which there should be a suitable set of many, small, simple, fast and usually technical-innovative solutions does not do justice to the present, because then authoritarian regimes, dictatorships, war, torture and the impending uninhabitability of the world due to climate change only have no future if other futures are thought of and made. Instead of the blind optimism of small solutions to major threats, it is important to cultivate what Antonio Gramsci called “a pessimism of reason, an optimism of will.” When the pessimism of the mind analyses the magnitude and complexity of the problems of the present, then the optimism of will can actually drive speculation against the expected, against the probable and against the linear future. More than 500 years ago, Thomas More’s thought experiment was a lonely one. The utopian thought experiments of the interwoven world of the 21st  century require collective thought experiments.