Die neurowissenschaftliche Gouvernementalität (Vortrag auf der Tagung: „Transformationen von Wissen, Mensch und Geschlecht“. Universität Potsdam – Europa Universität Viadrina, Potsdam, 9. – 10. Juni 2006)

Abstract des Vortrags auf der Tagung: „Transformationen von Wissen, Mensch und Geschlecht“. Universität Potsdam – Europa Universität Viadrina, Potsdam, 9. – 10. Juni 2006

Petra Schaper-Rinkel

Die neurowissenschaftliche Gouvernementalität: Re-Konfiguration von Geschlecht zwischen Formbarkeit, Abschaffung und Re-Essentialisierung
Das Gehirn gilt Natur- und Technikwissenschaften als „final frontier“. Brainscans, Neurowissenschaften, Neurotechnologien, Neuro-Pharmazeutika machen das Gehirn zu einem Feld von Kontrolle, Intervention und Optimierung. Das Gehirn wird zu einem Organ, wie es der sportliche Körper schon ist: Es kann manipuliert, optimiert und verändert werden. Was das Denken, Fühlen und Steuerungsleistung betrifft, so ist es in einem besseren oder schlechteren Zustand, bedarf je nach Ausgangslage einer spezifischen Behandlung und Verbesserung.
Scheinbar weitgehend wandelbar könnte mit der Modellierung und Optimierung des Gehirns die Nivellierung der Geschlechterdifferenz einhergehen: Wenn immer mehr Frauen mittels Antidepressiva durchsetzungsfähig gemacht werden, und immer mehr männliche Schüler pharmakologisch (Ritalin) ruhig gestellt werden, würde die Geschlechterdifferenz nivelliert, argwöhnen konservative Kritiker der neuen Neurotechnologien aus dem Umfeld des US-amerikanischen Council of Bioethics.
Das Gehirn wird im Rahmen der Ausbreitung der neurowissenschaftlichen Wahrheitsmatrix für Phänomene verantwortlich gemacht, die zuvor als soziale und politische Probleme galten. Mit der anvisierten Entschlüsselung der Struktur und Funktionsweise des Gehirns soll es perspektivisch möglich sein, menschliches Handeln nicht nur neurowissenschaftlich zu erklären, sondern auch umfassend neurotechnologisch und pharmakologisch zu steuern. Wenn alles Handeln Gehirn ist und das Gehirn chemisch, biologisch und elektronisch entschlüsselt ist, dann ließen sich alle gesellschaftlichen Probleme durch entsprechende Gehirn-Interventionen bearbeiten. ‚Weibliche’ Passivität wie auch ‚männliche’ Aggressivität erscheinen damit als pharmakologisch zu optimierende Zustände.
Neurowissenschaftliche Interventionen offerieren im Risikodiskurs neue Lösungen, die im Gegenteil zur Gentechnik nicht nur Krankheiten vermeiden sollen, sondern Optimierungsstrategien versprechen. Nachdem die Ökonomisierung des Sozialen weit vorangeschritten ist und die sozialstaatlichen Sicherungssysteme weiter abgebaut werden, gehören die Anwendungen der Neurowissenschaften zu dem Instrumentarium, die individuelle und die staatliche Wettbewerbsfähigkeit auszubauen. Die neurotechnologische Selbst Veränderung ist keine, die frei gewählt ist, sie folgt der unsteten Dynamik von Angebot und Nachfrage auf den Märkten und ist damit von vornherein ein Experiment mit unsicherem Ausgang.
Mit der voranschreitenden Entzifferung von Gehirnfunktionen und der Weiterentwicklung der bildgebenden Verfahren (brain-imaging: fMRI, PET) werden stets neue Dispositionen, Abweichungen und Verhaltensindikatoren festgestellt und konstruiert. Geschlechterdifferenz wird neurowissenschaftlich analysiert und re formuliert und dabei implizit und explizit normiert. In dem Beitrag soll gezeigt werden, welche Konturen das Programm einer neurowissenschaftlichen Gouvernementalität annimmt und in welcher Weise das Geschlechterverhältnis dabei neuroökonomisch reformuliert wird.