Artikel Gen-ethischer Informationsdienst (GID): Produktion hypothetischer Zukünfte

Schaper-Rinkel, Petra: Produktion hypothetischer Zukünfte – Heute ist sozialwissenschaftliche Expertise in die Innovationspolitik integriert und partizipative Verfahren sind institutionalisiert. Was heißt das für eine Perspektive der Kritik? (Schwerpunkt: Kritische Sozialwissenschaft. Gesellschaftliche Intervention oder Elfenbeinturm?)
GID: 218/2013 (Zeitschrift: 21-23)

Produktion hypothetischer Zukünfte

„Für eine andere Zukunft“, so lautete einmal die Forderung von SozialwissenschaftlerInnen, Technologieentwicklung partizipativ zu gestalten und Wissen über gesellschaftliche Kontexte und Folgen einfließen zu lassen. Heute ist sozialwissenschaftliche Expertise in die Innovationspolitik integriert und partizipative Verfahren sind institutionalisiert. Was heißt das für eine Perspektive der Kritik?

Davon handelt mein Beitrag.

Und insgesamt beschäftigt sich das Heft mit folgendem Thema: „Gesellschaftswissenschaft ist Gesellschaftskritik!“ So lautete lange Zeit das Selbstbild der SozialwissenschaftlerInnen und lautet es noch heute für viele. Doch wie sieht die Praxis aus? Bleibt sie durch nie abgeschlossene Diskussionen behütet im akademischen Elfenbeinturm stecken? Und wenn sie es in die politische Praxis schafft, was wird dann daraus? Im Schwerpunkt fragen wir nach der zivilgesellschaftlichen Nützlichkeit sozialwissenschaftlicher Ansätze, die sich kritisch mit neuen Technologien befassen.


Produktion hypothetischer Zukünfte

Begleitforschung und Partizipationsindustrie

„Für eine andere Zukunft“, so lautete einmal die Forderung von SozialwissenschaftlerInnen, Technologieentwicklung partizipativ zu gestalten und Wissen über gesellschaftliche Kontexte und Folgen einfließen zu lassen. Heute ist sozialwissenschaftliche Expertise in die Innovationspolitik integriert und partizipative Verfahren sind institutionalisiert. Was heißt das für eine Perspektive der Kritik?

Bei den so genannten Zukunftstechnologien wie Nanotechnologie, Synthetischer Biologie oder Neurotechnologien sind nicht erst die fertigen technischen Artefakte gesellschaftlich umkämpft, sondern die Debatte setzt wesentlich früher an. Denn wissenschaftliche Grundlagenforschung, staatliche Innovationspolitik und wirtschaftliche Inwertsetzung sind eng verzahnt, geschehen gleichzeitig und nicht linear hintereinander. Zukünftige Märkte und zukünftige Akzeptanz werden Gegenstand von Forschung, bevor sich die technologischen Anwendungen materialisiert haben. In der Produktion dieses Zukunftswissens verschwimmen die Grenzen zwischen Wissenschaft und Technologie und zwischen Sozial- und Naturwissenschaften: Denn all diese heterogenen Akteure beteiligen sich daran, Zukunftswissen zu generieren. Paradox könnte dabei erscheinen, dass die Technologien selbst zwar noch nicht vorhanden sind, aber trotzdem bereits die Zukunft bestimmen. „Schlüsseltechnologien … zeigen Lösungswege für die globalen Probleme unserer Zeit“, erklärte etwa Annette Schavan als seinerzeitige Forschungsministerin zum Nanotechnologie-Aktionsplan 2015 ihres Ministeriums. Technologien erscheinen als handelnde Akteure und die Politik folgt in dieser Logik der Technologie, die sie als technologisches Zukunftsversprechen fördert und hervorbringt. Sozialwissenschaften sind in einer widersprüchlichen Position, wenn sie sich an Prognosen beteiligen oder partizipative Verfahren zu Entwicklung von Zukunftstechnologien organisieren: Einerseits sind sie daran beteiligt, die Idee feststehender Zukunftstechnologien zu bestärken und stützen damit den Determinismus. Gleichzeitig wird genau dieser Determinismus in Frage gestellt, indem sich mehr denn je sehr unterschiedliche Akteure daran beteiligen, die Technologien zu schaffen, die immer ganz anders aussehen, als sie einst prognostiziert wurden. Eine kritische Perspektive auf Technologieentwicklung muss sich heute deswegen nicht nur mit vorhandenen Technologien, sondern mit den „Wahrheitspolitiken“ beschäftigen, die die Formierung von wissenschaftlich-technischen Feldern antizipieren und damit beeinflussen.

Zukunft für alle! Ein Blick zurück

Gesellschaftliche Akteure und sozialwissenschaftliche Perspektiven zu einem frühen Zeitpunkt in die Technologieentwicklung zu integrieren, wurde lange von kritischen Ansätzen gefordert. Gegen eine regierungs- und militärnahe Zukunftsforschung etwa verlangte der „Futurologe“ Ossip K. Flechtheim in den 1960er Jahren eine „Befreiung der Zukunft“. Auch Robert Jungk proklamierte, Zukunft gehöre allen, und setzte sich dafür ein, bisher durch das Objektivitätsideal der Naturwissenschaften ausgeschlossene Wissensbestände und normative Ansprüche in die Generierung von Zukünften aufzunehmen. Die Verfahren, die in den 1970er und 1980er Jahren aus der Kritik entstanden, setzten auf die breite Partizipation derer, die von der jeweiligen Zukunft betroffen wären, und die nun zum Subjekt der Planung werden sollten. International rezipiert wurden etwa die „Zukunftswerkstätten“, in denen „die Bürger, die Bauern, die Arbeiter und Angestellten ihre eigenen Konzepte für künftige lebenswerte, menschenwürdige Zustände ebenso vorausentwerfen wie Staat und Industrie“.1 Im Kontext einer spätestens seit den 1980er Jahren konstatierten Legitimationskrise der Wissenschaft gingen diese Ideen auch in internationale Konzepte wie das der nachhaltigen Entwicklung der World Commission on Environment and Development von 1987 ein. Nicht mehr ein hierarchischer Staat, sondern die Aushandlungen heterogener Akteure innerhalb eines politischen Mehrebenen-Prozesses sollen Zukunft gestalten. Ziel dieses Governance-Prozesses ist nicht nur demokratische Legitimität, sondern auch eine höhere Problemlösungsfähigkeit und Effizienz.

Heute: transdisziplinäre und partizipative Zukunft

Abstrakt betrachtet entspricht die heute institutionalisierte Generierung von Zukunftswissen den früheren Forderungen: Wenn eine Technologie noch nicht materiell vorhanden ist, kann ihre konkrete Ausgestaltung eher gesellschaftlich bestimmt werden; denn sie ist noch nicht existent in dem Sinne, dass konkrete aktuelle Interessen und Märkte mit ihnen verbunden sind. Aktuelles Beispiel sind die Initiativen der „Converging Technologies“ oder des „Human Enhancement“: Eine transdisziplinäre Diskussion über mögliche Anwendungen und eine dafür erforderliche Grundlagenforschung wurden hier initiiert, bevor diese Begriffe im wissenschaftlichen Diskurs oder in Förderprogrammen etabliert waren. In dieser politischen Strategie wurde der Raum für die Anwendungen durch umfassende Diskurse schon im Vorfeld von Förderinitiativen ausgelotet. Insbesondere der weite Begriff der Transdisziplinarität verweist direkt auf partizipative Praxen: gemeint ist die Einbindung unterschiedlicher Akteure aus wissenschaftlichen Disziplinen, Wirtschaft, Politik, Medien und Zivilgesellschaft, um zu guten und adäquaten Lösungen zu kommen (siehe Artikel von Anne Bundschuh in diesem Heft). Was gut und adäquat ist, wird allerdings kaum expliziert, so dass das Ziel des wirtschaftlichen Wachstums weiterhin die Dynamik bestimmt. Eine konzeptionelle Veränderung lässt sich allerdings in den letzten Jahren feststellen: Während in den ersten Förderprogrammen der Nanotechnologie Wettbewerbsfähigkeit noch eine zentrale Legitimationsquelle war, sollen Zukunftstechnologien heute der Bewältigung von so genannten gesellschaftlichen Herausforderungen, wie die der alternden Gesellschaft oder des Klimawandels, dienen.

Kritik: ein heterogenes Feld

Die aktuelle Innovationspolitik verbindet in partizipativen Prozessen unterschiedliche Akteure miteinander und integriert potentielle Kritik frühzeitig. Kritische Beiträge aus Sozialwissenschaften und zivilgesellschaftlicher Partizipation haben unterschiedliche Effekte. Kritik an bestehenden Technologien (unterer Teil der Grafik) und an Zukunftstechnologien (oberer Teil) kann auf Optimierung oder Ablehnung hinauslaufen, die jeweils idealtypische Extrempunkte eines heterogenen Feldes bilden. Kritik an bestehenden Technologien kann zur Optimierung beitragen, wenn sie aus der Nutzer-Perspektive selbst Vorschläge macht oder sich für eine demokratisierende Open Innovation einsetzt. Auch im Rahmen der institutionalisierten Technikfolgenabschätzung streut sie keinen Sand ins Getriebe des Innovationsparadigmas; denn hier sollen letztendlich innerhalb bestehender gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Denkformen konkrete technologische Verbesserungen erreicht werden. Auf der anderen Seite steht eine Kritik, die bestimmte technologische Verfahren oder ganze Großtechnologien wie die Atomenergie ablehnt. Auch sie kann Innovationspolitik befördern, wenn es darum geht, ältere Technologien durch neuere zu ersetzen. Eine frühe Kritik an Zukunftstechnologien kann problematische Tendenzen, zukünftige Konflikte oder Regulierungsdefizite identifizieren und trägt damit gestaltend und optimierend zum Innovationsprozess bei. Am anderen Ende des Spektrums lässt sich die prinzipielle Kritik einordnen, dass technologische Lösungen für politische Probleme gesucht werden (zum Beispiel die Kampagne der ETC Group zu Nanotechnologie).

Nanotechnologie als Verfahrensinnovation

In der Nanotechnologie lassen sich die Effekte einer frühen Institutionalisierung von sozialwissenschaftlicher Begleitforschung gut beobachten. Es formierte sich ein breites sozial- und geisteswissenschaftliches Feld, in der insbesondere die „nano-ethische“ Forschung über hypothetische zukünftige Dilemmata und langfristige spekulative nanotechnologische Zukünfte hohe Aufmerksamkeit bekam. Arie Rip and Alfred Nordmann kritisieren diese Form als ‚spekulative Ethik‘, da mit dem Fokus auf spekulative Langfrist-Szenarien aktuelle Entwicklungen aus dem Blick geraten. Sie plädieren stattdessen dafür, von einer Vielzahl von Akteuren ein Feedback in Bezug auf sehr konkrete Anwendungsbereiche einzuholen und dies wiederum in die Modulation von Zukunft zurückzuspielen, um so sozio-technische Dynamiken spezifischer fassen zu können.2 Um dies zu erreichen, entwickeln Projekte im Umfeld des „Constructive Technology Assessment“ auf einer Mikro-Ebene „Co-evolutionary Scenarios“. Auf Ebene der Europäischen Union wird mit dem ähnlichen Konzept der „verantwortlichen Forschung und Innovation“ versucht, ethische Fragen und Nachhaltigkeitsaspekte durch die Beteiligung von Stakeholdern im frühen Stadium der Forschung in die Technikentwicklung zu integrieren. Die inzwischen wieder ad acta gelegten weitreichenden Versprechen der Nanotechnologie, die Medizin zu revolutionieren, werden heute in veränderter Form der Synthetischen Biologie zugeschrieben, die heute an Stelle der Nanotechnologie dafür steht, die Natur technologisch zu übertreffen. Nicht die Technologie, sondern ein organisierter Diskurs weitreichender Zukunftsversprechen bestimmt somit die politische Ökonomie der Zukunftstechnologien.3 Es sind allerdings ausdifferenzierte Instrumente zur Konfliktbearbeitung entstanden – von deliberativen Verfahren bis zu Szenario-Techniken, die konkrete Produkte und Verfahren imaginieren, um die Zukunftstechnologien diskutierbar zu machen.

Steuerung durch Partizipation

Da Partizipation allgegenwärtig geworden ist, beginnt auch eine stärkere sozialwissenschaftliche Forschung dazu, die dies wiederum reflektiert. Auch sie hat zwei Seiten, umfasst sie doch einerseits eine Professionalisierung in der Organisation partizipativer Prozesse, aber auch eine Analyse und Kritik einer „Partizipations-Industrie“. Letztere Perspektive hat inzwischen herausgearbeitet, dass erst mit den jeweiligen Verfahren (wie Bürgerkonferenzen, Fokusgruppen) die spezifischen Öffentlichkeiten geschaffen werden, die als ihre Voraussetzung gelten. In den Prozessen und Partizipationsformaten werden die Sprecherpositionen von Individuen und ‚unvoreingenommenen Laien‘ privilegiert, während kritisch-kollektive Sprecherpositionen tendenziell delegitimiert werden. Partizipative Verfahren basieren vielfach trotz gegenteiligem Anspruch auf einem „Defizit-Modell“, in dem eine als objektiv gedachte Wissenschaft einer als unkundig konzeptualisierten Öffentlichkeit gegenübersteht.4 Deutlich wird, dass diejenigen, die partizipative Prozesse organisieren, zugleich in den Prozess intervenieren. Die Praxen der Partizipation sind damit eingebettet in ein Regieren, das nicht immer sichtbar ist. Was einzelne partizipative Prozesse für ein Verhältnis zu staatlichem Regieren und wer welchen Einfluss auf die innovationspolitische Agenda hat, ist dabei vielfach unbestimmt. Diese Unbestimmtheit ist aber kein Mangel der Analyse, sondern Charakteristikum der neuen Formen des Regierens selbst.

Kritik an Wahrheitsproduktion

Genau an diesen unbestimmten – und unsichtbaren – Formen des Regierens und den damit verbundenen Denkformen kann Kritik ansetzen: Eine adäquate Kritik von Technologien, die erst in der Zukunft realisiert werden sollen, muss somit Vernunftkritik sein, denn sie muss die spezifischen Verbindungen von Wissen, Macht und Subjektivierung untersuchen, die den neuen Technologien beziehungsweise ihren Konzepten zugrunde liegt. Grundlagen einer solchen Analyse bietet das Konzept der Gouvernementalität bei Foucault, das genau diese Fragen stellt.5 Denn das Regieren von Zukunftstechnologien bedeutet eine aktive Aneignung, Interpretation und Übernahme von Konzepten durch verschiedene Akteure, die erst das hervorbringen, was Gegenstand des antizipierenden Regierens ist. Mit einer solchen kritischen Perspektive kann zweierlei gleichzeitig gefolgert werden: Heutige partizipative Praxen zur Generierung von Zukunftstechnologien sind unabgeschlossene Prozesse, die in vielerlei Hinsicht gesellschaftlich bestimmt werden und bestimmbar sind. Aber: Sie finden innerhalb herrschender Machtverhältnisse statt. Schon Marx stellte fest: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“. Dies trifft auch für die aktuelle Auseinandersetzung über und mit Technologien zu. Partizipation in Technikfragen ist zu einer gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit geworden, wenn sie dem vorgefundenen technik- und wettbewerbsorientiertem Innovations-Paradigma folgt. Partizipation zu nutzen, um eine Technologieentwicklung zu forcieren, die dieses Paradigma bricht um eine andere Welt zu ermöglichen, steht noch in den Anfängen. Dazu müssten partizipative Verfahren die Ziele und die Umstände, respektive die institutionellen Rahmenbedingungen der Technologieentwicklung selbst in Frage stellen.

  • 1. Jungk, R. und Müllert, N. R. (1981): Zukunftswerkstätten, Hamburg, Hoffmann u. Campe.
  • 2. Nordmann, A. und Rip, A. (2009): „Mind the gap revisited“, Nature Nanotechnology. 4 (5): 273-274.
  • 3. Schaper-Rinkel, P. (2013): „The role of future-oriented technology analysis in the governance of emerging technologies: The example of nanotechnology“, Technological Forecasting and Social Change, 80 (3): 444-452.
  • 4. Braun, K. and S. Schultz (2010): „‚…a certain amount of engineering involved‘: Constructing the public in participatory governance arrangements“, Public Understanding of Science, 19 (4): 403-419; Felt, U., Fochler, M. und Strassnig, M. (2011): Experimente partizipativer ELSA-Forschung, in Grießler, E. und Rohracher, H. (Hrsg.): Genomforschung – Politik – Gesellschaft. Perspektiven auf ethische, rechtliche und soziale Aspekte der Genomforschung, VS Verlag für Sozialwissenschaften: 33-67.
  • 5. Bröckling, U., Krasmann, S. und Lemke, T. (Hrsg.) (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main, Suhrkamp.