Andere Zukünfte. Politik der Utopien (PROKLA Artikel)

Petra Schaper-Rinkel (2005). Andere Zukünfte: Politik der Utopien. In: PROKLA Nr. 141. S. 551-568. DOI: https://doi.org/10.32387/prokla.v35i141.581 

Politische Utopien – Heute?

Politische Utopien reflektieren mögliche Zukünfte, auch wenn jene Zukünfte, die sie beschreiben, nicht in der beschriebenen Form realisiert werden. Der Anspruch an eine politische Utopie besteht darin, eine als besser und gerechter angesehene Welt zu beschreiben, und dabei ihre Funktionsbedingungen nachvollziehbar darzustellen.[1] Utopien sind ein Medium der Kritik, die ihre Einwände gegen die herrschenden Verhältnisse ihrer Zeit, in konstruktiven Fiktionen zusammenfassen (Saage 2003: 6). Gemeinsam ist den politischen Utopien, Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Unterdrückung zu kritisieren, doch was demgegenüber gut und gerecht ist, wandelt sich in der Geschichte des utopischen Denkens genauso, wie Gleichheit und Freiheit zugleich die Grundlage der politischen Utopien bilden und doch in gegensätzlicher Weise konzeptionell entwickelt werden. Herrschaftsstrukturen zum Verschwinden zu bringen und eine solidarische Gesellschaft von Freien und Gleichen aufzubauen, lässt sich aus der heutigen Perspektive am ehesten als Grundlage der politischen Utopie benennen.

Mit dem Ende der bipolaren Weltordnung, mit Globalisierung, globaler Kommunikation, erodierender Staatlichkeit und ökologischen Krisen geriet die politische Utopie nicht nur ins Kreuzfeuer der Kritik, es schienen nun zugleich Bedingungen gegeben, die außerhalb dessen liegen, auf was Utopien antworten. Die heutige Welt scheint aus der Perspektive der bisherigen Utopien zweigeteilt. In der einen Welt ist die soziale Desintegration absolut – Elend, Armut, Hunger und Gewalt der heutigen Welt übertreffen das, was die utopischen Denker vergangener Zeiten kritisiert haben, bei weitem. Die zweite Welt des beispiellosen Reichtums, der computerisierten Produktion, der medizinischen und wissenschaftlichen Entdeckungen und der endlosen Möglichkeiten kommerzieller und kultureller Vergnügungen stellt dagegen Alles in den Schatten, was die Utopien vergangener Jahrhunderte für die Zukunft erdacht haben (Jameson 2004: 35). Nun ließe sich vermuten, politische Utopien sind in einer solchermaßen zweigeteilten (oder postmodern ausgedrückt: in einer solchermaßen vielfältigen, paradoxen und durch Ambivalenz gekennzeichneten Welt) gar nicht mehr denkbar, da ihnen die Eindeutigkeit der Verhältnisse fehlt, aus denen heraus Utopien ihre Kritik entwickeln und ihr Gegenmodell einer besseren Welt entwickeln. Doch diese Vermutung verbleibt im Denkhorizont der Utopie-Kritiker, die den Utopien vorwerfen, zu vereinheitlichen und damit totalitär zu sein[2]. Vielmehr zeigt die Geschichte politischer Utopien, wie sich Utopien als reflexive Medien des Zukunftsdenkens entwickelt haben, die sowohl veränderte historische Bedingungen, als auch das utopische Denken selbst reflektieren.


[1] Politische Utopien zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine an rationalen Kriterien ausgerichtete Kritik der sozio-politischen Defizite der Herkunftsgesellschaft bieten, um die fiktive bessere Alternative mit der Realität zu verknüpfen (Saage 2001: 78). Damit lassen sich Utopien gegen Chiliasmen und Mythen abgrenzen, aber auch gegen Science Fiction, Prognosen und allgemeine Zukunftsaussagen. Politische Utopien sind damit fiktionale Entwürfe von Gesellschaften, die die bestehenden sozio-ökonomischen Verhältnisse und Institutionen präzise und umfassend kritisieren und aus ihrer Kritik heraus eine rational nachvollziehbare Alternative entwerfen (Saage 2003: 6; Saage 2004). Was als adäquate Kritik gilt, und welches Gegenmodell als rational und attraktiv gilt, ist selbstverständlich zeitgebunden.

[2] Warum Utopien gerade nicht ‚totalitär’ sind, wie es die konservative Kritik nach dem Ende des Realsozialismus behauptete, ist in den letzten Jahren von unterschiedlichen Seiten dargelegt worden (Saage 1997; Saage 2003: 499 ff.; Jameson 2004; Lenk 2005).

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