Buchbeitrag 2012: Das neurowissenschaftliche Selbst. (Re)Produktion von Geschlecht in der neurowissenschaftlichen Gouvernementalität

Das neurowissenschaftliche Selbst. (Re)Produktion von Geschlecht in der neurowissenschaftlichen Gouvernementalität

Neuro-Enhancement Politiken. Die Konvergenz von(Re)Produktion von Geschlecht in der neurowissenschaftlichen Gouvernementalität, in:  Eva Sänger und Malaika Rödel (Hg.): Biopolitik und Geschlecht. Zur Regulierung des Lebendigen, Seite 84-106. Bd. 35 Forum Frauen- und Geschlechterforschung der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung in der DGS, Münster, S. 84-106

Die Wissensordnungen der Neurowissenschaften und die Form, in der sie zunehmend in anderen Wissenschaften aufgegriffen werden, beschreiben  und strukturieren eine spezifische Realität, in der neue neurowissenschaftlich basierte Selbsttechnologien  plausibel werden. Zugleich wird ein politisches Wissen generiert,  das die spezifischen Selbsttechnologien und Machtpraktiken konstituiert und sie zu einem Teil eines Regierens werden lässt. Mit den Zukunftsversprechen der Neuroforschung sowie die zunehmenden neuropharmakologischen Praxen werden traditionelle Grenzziehungen in Frage gestellt: Unglück wird mit Glückspillen behandelt, Misstrauen mit Bindungshormonen beeinflussbar und sowohl Sozialverhalten als auch Vergessen und Erinnern können mit Psychopharmaka gesteuert werden.  Die Wissensmatrix der Neuroforschung wie die Praxen der neuropharmakologischen Interventionen sind dabei umfassend geschlechtlich codiert: Das ‚Hormon Oxytocin macht Männer einfühlsamer‘, ‚Männer- und Frauenhirne verarbeiten Schönheit unterschiedlich‘ lauten Schlagzeilen, die zeigen, dass mit neuesten Forschungstechnologien tradierte Annahmen über die (neuro)biologischen Geschlechterdifferenzen erneut Gegenstand von Untersuchungen sind.  In den Wissensordnungen unterschiedlicher Bereiche der Neurowissenschaften dient Geschlecht als eine zentrale Variable, um umkämpfte Grenzziehungen zwischen Natur und Kultur je nach experimenteller Anordnung in Frage zu stellen oder zu stabilisieren.  Die Ergebnisse sind widersprüchlich, nicht zuletzt da das jeweilige Untersuchungsdesign nicht selten von starken ‚alltagsweltlichen‘ Prämissen geleitet ist. Unabhängig von den konkreten Ergebnissen haben neurowissenschaftliche Deutungsmuster eine steigende Bedeutung sowohl in der individuellen Selbstwahrnehmung als auch in politischen Regierungsstrategien. Die Plausibilität liegt nicht zuletzt an den Interventionsmöglichkeiten, die in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden.  Insbesondere die Forschungsfelder Neuropharmaka, bildgebende Verfahren und Neurodiagnostik  generieren nicht nur medizinisch relevantes Wissen, sondern auch Anwendungen, die über den traditionellen medizinischen Bereich hinausweisen und bisher mit Schlagwörtern wie Gehirndoping und Neuro-Enhancement charakterisiert werden. Die Anwendungen verweisen einerseits auf vergeschlechtlichte Praktiken, wie die stärkere Nutzung von Antidepressiva durch Frauen, aber auch auf  eine Angleichung, wie etwa bei der Nutzung von Präparaten zur Steigerung von Aufmerksamkeit, die einst fast ausschließlich mit männlichen  Nutzern verbunden war, heute jedoch zunehmend auch von Frauen genutzt werden.

Mit den neurowissenschaftlichen Anwendungsmöglichkeiten wird die gesellschaftliche und individuelle Verfügbarkeit über Wohlbefinden, Leistungsfähigkeit und soziale Kompatibilität sowie die Verantwortung für ein gelingendes Leben neu verhandelt. Da die auf Selbstverantwortung setzenden Regierungsstrategien an den je spezifischen Ressourcen  der Einzelnen ansetzen, basieren sie auf der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung und schreiben diese in transformierter Form fort.  Die Phänomenologie neurowissenschaftlicher und -technologischer Praxen verweist auf der empirischen Ebene – neben einer hohen Ausdifferenzierung – auf einen gemeinsamen Fokus:  auf die individuelle wie volkswirtschaftliche Optimierung gerichtet.  Ob damit jedoch vergeschlechtlichte Eigenschaften zu veränderbaren Variablen werden, die entsprechend der je unterschiedlichen individuellen Anforderungen optimiert werden können, bleibt eine Frage, zu der es widersprüchliche Tendenzen gibt.  Mit Foucaults Begriff der Biopolitik und dem damit verknüpften analytischen Instrumentarium lassen sich Konturen einer neuen Rationalität des Regierens herausarbeiten, in der das vergeschlechtlichte „regiert Werden“ und das  „sich selbst Regieren“ auf die neurowissenschaftliche Wissensordnung zurückgreift.

Konkret soll die Vielzahl der neurowissenschaftlichen Phänomene in drei Bereichen untersucht werden, die jeweils als neue vergeschlechtliche Regierungsformen analysiert werden können.

  • Die Regierung der Gefühle:  Von der Behandlung von Depressionen zur Regulierung von Gefühlen
  • Die Regierung der Beziehungen: Von der Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen zur Regulierung von Aufmerksamkeit und sozialem Verhalten
  • Die Regierung der Gehirne: Mentale Gesundheit und kognitive  Leistungsfähigkeit als Konnex staatlichen Regierens und individueller Selbsttechnologien